Ich bin dem Tod von der Schippe

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Gesellschaftlicher Druck, falsche Vorbilder, psychische Probleme: Wie Louisa-Marie drohen immer mehr essgestörte Frauen, daran zu zerbrechen

Schwere Essstörungen

Schmerzvolle Erinnerung: „Es war, als wäre ein Schalter in meinem Kopf gekippt. Ich konnte nur noch essen“.
Bis zu 15 000 Kalorien verschlang Louisa-Marie bei ihren Fressanfällen

Ein kleines rotes Notizbuch liegt vor uns auf dem Tisch. Es wirkt abgewetzt und wurde schon so oft benutzt, dass die Farbe an manchen Stellen abblättert. „Das war früher meine Bibel, mein Heiligtum. Ohne dieses Buch bin ich viele Jahre lang nicht aus dem Haus gegangen. Ich wäre sonst panisch geworden.“ Als Louisa-Marie das Buch aufschlägt, springen uns auf jeder Seite enorm viele Zahlen entgegen, fein säuberlich in Tabellen eingetragen. Die meisten davon sind rot, nur ganz wenige gelb. Ob es auch grüne Zahlen gibt, wollen wir wissen? „Ja, hier hinten – für Obst und Gemüse. Aber auch nicht bei allen.“ Die Zahlen sind die Kalorienangaben für fast jedes Lebensmittel – auch für die, die sie niemals gegessen hätte. Mehr als zwanzig Jahre bestimmten ausschließlich Gedanken ans Essen das Leben der 34-jährigen Berlinerin. „Dabei habe ich nie einem Schönheitsideal hinterhergejagt oder wollte wie die Models in den Frauenzeitschriften aussehen, nie. Aber als ich 14 war, starb ein guter Freund. Aus Trauer konnte ich nichts essen. So verlor ich einige Kilos. Das fühlte sich anfangs gut an, gesund – und hey, auch meine Mutter nahm mich positiv wahr. Das fand ich großartig und vermisste das Essen auch nicht“, erinnert sich Louisa-Marie. Damals ahnte sie nicht, was für ein Leidensweg noch vor ihr liegen würde. „Bald strich ich Zucker, Zusatzstoffe und all das Zeug, das der Körper nicht braucht, aus meiner Ernährung. Mein neues Essverhalten verselbstständigte sich. Ich ließ immer mehr weg, auch vermeintlich ‚sichere‘ Speisen. Der Zwang wurde immer größer, doch ich fühlte nur Kontrolle. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich allein die Kontrolle über etwas, dass mir weder meine Eltern noch mein Umfeld nehmen konnten – meinen eigenen Körper.“ Dass sie in sechs Monaten zwanzig Kilo verlor, nahm sie nicht mehr so wahr: „In meinem Kopf erschien mein Spiegelbild immer viel dicker. Ich war so schwer magersüchtig, dass ich am liebsten verschwunden wäre.“ Heute weiß sie: „Es war Selbstmord auf Raten. Irgendwann wog ich nur noch 32 Kilogramm, hatte weder Kraft noch einen Funken Lebensfreude. Das war mein Tiefpunkt, ich kam in eine Klinik.“

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