PIONIERIN IN TERRA INCOGNITA

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ALEXANDRINE TINNE

Daheim in Europa schüttelten sie den Kopf: Wie eine Getriebene reiste Alexandrine Tinne zu den weißen Flecken Afrikas. Bis sie am 1. August 1869 ein Säbel traf.

Maximilian Zech ist Journalist und Schriftsteller in Leipzig.
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Es geschieht am Morgen des 1. August 1869. Der Tatort: eine unwirtliche, menschenleere Wüstengegend in der libyschen Sahara, knapp 1000 Kilometer südlich von Tripolis. In einem provisorischen Zeltlager liegt eine junge europäische Frau halb nackt auf dem Boden und schreit nach Hilfe. Sie hat mehrere tiefe Wunden, aus denen Blut in den Sand sickert. In einigem Abstand stehen verängstigte Menschen und sehen tatenlos zu, während andere die Habseligkeiten der Frau durchwühlen und die Beute unter sich aufteilen. So geht es mehrere Stunden. Dann, am frühen Nachmittag, verstummen die Schreie, ist die Qual endlich vorbei. Alexandrine Tinne ist tot.

Zweifellos zählte die junge Holländerin, die keine 34 Jahre alt wurde, zu den ungewöhnlichsten und schillerndsten Reisenden des reisefreudigen 19. Jahrhunderts. Als eine der ersten Europäerinnen drang sie in das Innere Afrikas vor. Sie beteiligte sich an der Suche nach den legendären Nilquellen und wollte als erste weiße Frau die Sahara durchqueren. Afrika war Alexandrine Tinnes große Liebe und ihr Schicksal. Noch Jahrzehnte nach ihrem gewaltsamen Tod rankten sich in den Dörfern und Karawanen Legenden um die »Tochter des Königs«, wie sie ehrfurchtsvoll genannt wurde.

Der abenteuerliche Weg zu jenem grausamen Ende mitten in der Wüste begann am 17. Oktober 1835. Alexandrine Tinne erblickte an der vornehmen Herengracht in Den Haag das Licht der Welt. Ein Leben in Reichtum und Luxus war ihr vorbestimmt. Ihr Vater, Philippe Frédéric Tinne, war mehrere Jahre lang ein hoher Beamter in den niederländischen Kolonien in Südamerika gewesen und hatte im heutigen Guyana große Flächen für den Anbau von Kaffee und Rohrzucker erworben. 1812 gründete er in Liverpool ein Handelsunternehmen und kehrte nach dem Tod seiner ersten Frau als reicher Mann nach Holland zurück. Dort heiratete er Henriette van Capellen, die einer der angesehensten Adelsfamilien des Landes entstammte. Aus dieser Verbindung ging Alexandrine als einziges gemeinsames Kind hervor. Als ihr Vater im Jahr 1844 starb, wurde die Neunjährige eine der reichsten Erbinnen der Niederlande.

Damit war die junge Frau von frühester Kindheit an finanziell völlig unabhängig – und das bedeutete: vor allem unabhängig von den Männern. Den Heiratsantrag eines Herzogs, der ihr mit 16 Jahren gemacht wurde, lehnte sie ab, und auch später hat sie sich an keinen Mann fest gebunden. Stattdessen zog sie lieber mit ihrer Mutter los, gemeinsam erkun-deten die beiden die Welt. Das Reisen bot für Frauen eine der wenigen Möglichkeiten, ein weitgehend selbstbes

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