Ein Eigenbrötler besiegt die Unendlichkeit

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QUANTENFELDTHEORIE

In der Teilchenphysik führt jede Berechnung ins Unendliche, deshalb ist man auf Näherungen angewiesen. Ein kaum bekannter Ansatz könnte nun präzise Vorhersagen liefern.

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Seit Jahrzehnten kämpfen Physikerinnen und Physiker mit den Unendlichkeiten, die im Herzen der Quantentheorie verankert scheinen. Wie sich herausstellt, könnte die Lösung in drei kaum beachteten Lehrbüchern aus den 1980er Jahren verborgen sein.

Die wenigen physischen Exemplare, die von Jean Écalles Opus magnum »Les fonctions resurgentes« existieren, sehen aus wie hastig überarbeitete Fotokopien: Überdimensionale, mit dicker schwarzer Tinte gekritzelte mathematische Symbole unterbrechen immer wieder die sauber getippten Sätze. Der Text ist in französischer Sprache verfasst, was es der englischsprachigen Forschungswelt zusätzlich erschwert, sich dem Werk zu widmen.

Eine weitere Hürde ist die darin beschriebene Mathematik. Die 1110-seitige Trilogie strotzt nur so vor neuen mathematischen Objekten und bizarren Wortschöpfungen. Seltsam klingende Begriffe wie »Trans-Reihen«, »fortsetzbare Keime« und »Alien-Ableitungen« gibt es zuhauf. »Wenn man das zum ersten Mal sieht, könnte man fast meinen, das Werk stamme von einem Verrückten«, sagt der mathematische Physiker Marcos Mariño von der Université de Genève. Mariño bewahrt die – wie er sie nennt – historischen Dokumente in seinem Bücherregal auf und greift täglich auf die von Écalle entwickelten Werkzeuge zurück. »Écalle gehört zu einem dieser visionären Mathematiker«, befindet er.

Charlie Wood ist Redakteur für Physik bei »Quanta Magazine«.

Diese visionäre Mathematik könnte genau das sein, was man braucht, um ein tief greifendes Problem zu überwinden – eines, das die Physikgemeinschaft in den letzten 70 Jahren meist ignoriert hat. In dieser Zeit haben die Fachleute gelernt, erstaunlich gute Vorhersagen über die subatomare Welt zu machen. So präzise ihre Ergebnisse aber auch sind, handelt es sich dabei stets um Näherungen. Strebt man hingegen absolute Präzision an oder möchte Prozesse wie die starke Kernkraft verstehen, bricht das theoretische Gerüst zusammen. Plötzlich wimmelt es nur noch von Unendlichkeiten, die sich nicht ohne Weiteres beseitigen lassen.

Écalles alte Lehrbücher liefern ein anderes Bild. Die unendlichen Größen könnten demnach zahllose Schätze enthalten. Mit den mathematischen Werkzeugen der Écalle-Theorie lassen sich womöglich aus jeder Unendlichkeit Informationen ziehen, die letztlich zu endlichen Antworten auf teilchenphysikalische Fragen führen. »Das funktioniert in vielen Fällen bereits sehr gut«, urteilt der Physiker Marco Serone, der sich mit der als Resurgence (deutsch: Wiederauferstehung) bezeichneten Methode beschäftigt.

Die Resurge

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