Mathematik einer Südseetradition

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Die Sandzeichnungen des südpazifischen Archipels Vanuatu gehören zum immateriellen Weltkulturerbe. Das traditionelle Zeichnen folgt dabei strengen Regeln, die man auch in der Mathematik findet.

Alban Da Silva ist Ethnomathematiker, Historiker und Wissenschaftsphilosoph am der Université Paris Cité sowie Lehrer für Vorbereitungsklassen in Neukaledonien.

GRAPHENTHEORIE

VORARBEIT Bevor eine Person eine Sandzeichnung anfertigt, skizziert sie ein Raster – meist rechteckig, manchmal aber auch kreisförmig – wie dieses, das als Grundlage für das Muster »Skul blo fis« (Schule der Fische) dient.

Oktober 2015, Port Vila: Mein Aufenthalt zur Schulung von Mathematiklehrkräften am französischen Gymnasium in der Hauptstadt Vanuatus neigte sich dem Ende zu. Der Schulleiter lud mich zu einer Kava-Zeremonie ein, dem traditionellen Getränk des Archipels. Das gemeinsame Trinken von Kava bietet eine ideale Gelegenheit zum Austausch: Es wird aus den Wurzeln des Rauschpfeffers hergestellt und hat eine entspannende Wirkung, die das Sprechen fördert.

Bei meiner ersten Begegnung mit Kava wurde ich auch erstmals Zeuge des »Sandzeichnens«. Im Laufe des Abends brachte jemand ein großes Brett mit feinem Sand. Nachdem die Oberfläche sorgfältig geglättet worden war, begann der Zeichner, mit dem Finger ein Gitter aus waagerechten und senkrechten Linien zu skizzieren. Auf dieser Grundlage malte er, ohne den Finger anzuheben, ein Muster. Am Ende kommentierte er in Bislama (einer der Sprachen Vanuatus): »Hemia hem i wan fis i ronwe i stap unda stone from i kat wan sak« (das ist ein Fisch, der sich unter einem Stein vor dem Hai versteckt).

Die fließenden Linien, gemischt mit der Wirkung von Kava, versetzten mich in einen Zustand der Faszination und des Staunens. Die Technik erinnerte mich sofort an die Rätsel, bei denen man eine vorgegebene Figur in einem Zug zeichnen soll, ohne zweimal dieselbe Linie zu durchlaufen – wie beim Haus vom Nikolaus, nur sehr viel anspruchsvoller. Dieses Prinzip hängt mit dem mathematischen Konzept des »eulerschen Graphen« zusammen.

Während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, kam jemand auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: »Nun, Herr Professor, wo ist die Mathematik in dieser Zeichnung?« Ohne dass die Person es ahnte, hat sie damit die nächsten sechs Jahre meines Lebens geprägt, in denen ich eine Doktorarbeit über Sandzeichnungen verfasste.

138 Sprachen auf 83 Inseln

Meine Forschungen gingen viel weiter, als ich erwartet hatte


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