Wie Menschen zu Unmenschen werden

9 min lesen

GEWALTEXZESSE IM KRIEG

Die grausamen Massaker in Israel und in der Ukraine zeigen, wozu Menschen im Krieg fähig sind. Was treibt sie an? Über Jagdlust, Statusstreben und entmenschlichende Propaganda.

Anton Benz hat »Philosophie-Neurowissenschaften-Kognition« studiert und arbeitet als Wissenschaftsjournalist in Magdeburg.
TINNAKORN / STOCK.ADOBE.COM

Gesammeltes Rohmaterial«. So lautet der übersetzte Untertitel des 45-minütigen Films, den die israelische Armee für ausgewählte Journalisten und Diplomaten anfertigte. Und er zeigt genau das: die gesammelte Rohheit der Gräueltaten des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023. Wobei »roh« eine Untertreibung ist für das Vergewaltigen, Verstümmeln, Verbrennen, das kaltblütige und kalkulierende Morden, das die Terroristen zum Teil selbst dokumentiert haben. Wie können Menschen solche grauenhaften Taten begehen?

Der 7. Oktober werde »als der schwärzeste Tag seit dem Nazi-Holocaust in die jüdische Geschichte eingehen«, sagte der Rabbiner Pinchas Goldschmidt. Es ist eine tragische Kontinuität, denn die Shoah war der Auslöser für die psychologische Erforschung ebenjener Frage nach dem Ursprung des Bösen.

Daraus entstanden zwei der bekanntesten Experimente der Psychologie: die 1963 von Stanley Milgram veröffentlichte Gehorsamsstudie und das 1971 durchgeführte Stanford-Prison-Experiment, geleitet von Philip Zimbardo. In beiden Versuchen entwickelten sich gewöhnliche Menschen zu Folterknechten – weil sie blind den Anweisungen der Versuchsleiter folgten. Zumindest ist das die Interpretation, die lange verbreitet und zur Erklärung der Nazi-Verbrechen herangezogen wurde. Doch neue Analysen der archivierten Versuchsdokumentationen zeichnen ein Bild von methodischen Mängeln und falschen Auswertungen. »Die Studien sind eigentlich zerlegt worden«, sagt der Psychologe Thomas Elbert, emeritierter Professor von der Universität Konstanz. Heute weiß man: Einerseits sind wir widerspenstiger, als die frühe Forschung vermuten lässt. Andererseits braucht es nicht immer Druck von oben, damit »normale« Menschen grausame Taten begehen.

In einer Sache ist sich Elbert jedoch einig mit den Pionieren der Psychologie des Bösen: »Früher hat man angenommen, nur Personen mit einer Persönlichkeitsstörung seien in der Lage, Grausamkeiten zu begehen. Das entspricht aber nicht unseren Befunden.«

Für seine Studien befasste er sich mit Gewalttätern in Krisenregionen auf der ganzen Welt. Unter ihnen auch 213 Männer, die im Kivu-Krieg im Kongo gekämpft hatten. 2013 berichtete seine Konstanzer Forschungsgruppe: Fast die Hälfte der Befragten gab an, es zu genießen, anderen Gewalt anzutun oder dabei zuzusehen, wie Gewalt verübt wurde; ein Drittel berichtete von einem regelrechten Drang zu kämpfen, und etwa einer von zehn ehemaligen Kämpfern beschrieb das Gefecht als sexuell erre

Dieser Artikel ist erschienen in...

Ähnliche Artikel

Ähnliche Artikel