DIE TRAGÖDIE DER HERALD OF FREE ENTERPRISE

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Im schwindenden Licht eines grauen Spätwintertages sank die Fähre beim Auslaufen für die Überfahrt von Belgien nach England

RD-KLASSIKERMÄRZ 1988

FOTO: © AFP VIA GETTY IMAGES/BORIS HORVAT

Die See war glatt, das Wetter ruhig. Nichts ließ darauf schließen, dass sich wenige Minuten später die schlimmste Schiffskatastrophe ereignen sollte, die Großbritannien seit dem Untergang der „Titanic“ in Friedenszeiten zu beklagen hatte.

„Reader’s-Digest"-Reporter Lawrence Elliott schildert in seinem packenden Bericht die Angst und Verzweiflung, die an jenem Märzabend an Bord herrschten – und den Mut und den selbstlosen Einsatz der Helfer bei der Rettung der Passagiere.

IM HAFEN der belgischen Stadt Zeebrugge waren die Vorbereitungen auf der Kanalfähre Herald of Free Enterprise für die Fahrt nach Dover nahezu abgeschlossen. Mit ihrem hellroten Rumpf, den weißen Aufbauten und den blauen Schornsteinen war sie das majestätischste unter den 22 Schiffen der britischen Fährgesellschaft Townsend Thoresen.

An Bord befanden sich rund 460 Passagiere. Die genaue Zahl wurde nie festgestellt – es waren immer einige nicht mitgezählte Kinder dabei, außerdem zusätzliche Personen in den Autos und sogar ein paar in Lastwagen versteckte blinde Passagiere. Jedenfalls waren es ungewöhnlich viele, die in einer kalten Freitagnacht im März die Überfahrt antreten wollten.

Rund 100 Soldaten der britischen Rheinarmee fuhren übers Wochenende nach Hause, und eine britische Zeitung hatte in einer Werbeaktion etliche Leser zu einem Tagesausflug nach Belgien animiert. Auf den beiden Fahrzeugdecks standen 81 Autos sowie 47 Lastwagen und Anhänger.

Die Passagiere, fast lauter Briten, machten es sich für die viereinhalbstündige Überfahrt gemütlich. Das Restaurant und die beiden Cafeterias waren bald gut gefüllt. Die meisten begaben sich aber in die Passagiersalons, legten die Mäntel ab und suchten sich einen Platz, wo sie ihre Beine ausstrecken konnten.

Nur der Kapitän und ein paar mit den Festmachleinen beschäftigte Männer der Crew waren draußen in der frühabendlichen Dunkelheit an Deck. Der Kapitän, der seit 17 Jahren bei der Gesellschaft fuhr, stand in der Steuerbordbrückennock bereit, um das Schiff um die Wellenbrecher zu manövrieren, die den Außenhafen sicherten. Es wehte ein kalter, aber nur leichter Ostwind, und die See war ruhig. Nach Verlassen des Hafens würde die Herald nach Westen drehen und durch die Straße von Dover auf direktem Kurs die Südostspitze

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