ERINNERUNG BEWAHREN

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WENN DIE GESCHICHTEN EINES VOLKES IN GEFAHR SIND, WER SETZT SICH FÜR IHRE RETTUNG EIN?

Mam Ali steht auf dem Berg Peris im Norden des Iraks. Die Berge sind seit Langem Heimat der Kurden, die noch immer für eine eigene Nation kämpfen. Ein kurdisches Archiv versucht, Geschichten wie die seinige zu bewahren.
Fotos EMILY GARTHWAITE in Kurdistan & DIANA MARKOSIAN in Somaliland und Kosovo
Ein Schnappschuss von Verwandten, die als Soldaten der Peschmerga auf dem Berg Korek dienten, gehörte zu den letzten Dingen, die Faruk Sadri, eine kurdische Hebamme, in der Eile an sich nahm, als sie 1988 beim Angriff Saddam Husseins auf ihr Dorf die Flucht ergriff.
Seddiq Salih hatte eine Bitte. In der Dämmerung standen wir im kleinen Obstgarten seiner Familie am Stadtrand von Sîlemanî, das als kulturelle Hauptstadt des irakischen Kurdistan gilt.

Man hatte mir für den späteren Abend ein Treffen mit einem zurückgezogenen älteren Scheich zugesagt, der angeblich eine der feinsten Sammlungen kurdischer Manuskripte besaß. Seddiq, ein freundlicher 65-Jähriger, setzte jetzt ein ernstes Gesicht auf. „Bitte fragen Sie ihn: ‚Sie haben so viele Manuskripte gesammelt, warum übergeben Sie nicht einige davon an Zheen?‘“

Zheen, auf Kurdisch „Leben“, ist der Name eines Archivs, das Seddiq und sein Bruder Rafiq über mehr als zwei Jahrzehnte aufgebaut haben: eine Sammlung von Büchern, Handschriften, Zeitungen, Briefen, Tagebüchern und anderen Dokumenten, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen und die verschlungene Geschichte der Kurden erzählen, eines Volkes, das oft als die größte ethnische Gruppe ohne eigenen Staat beschrieben wird. Das Sammeln dieser Dokumente ist eine Berufung, die die Brüder durch Teile der Türkei, des Irans, Syriens und Iraks führte, also das gesamte kurdische Siedlungsgebiet. Bis zu 35 Millionen Menschen mit unterschiedlichen Religionen und Gebräuchen verstehen sich als Kurden. Sie bewohnen die bergige Region.

Die Geschichte der Kurden mäandert vom Leben in den Bergen oberhalb von Mesopotamien zu mittelalterlichen Eroberungen unter Führung des berühmten Kriegers Saladin, dann zum Verrat nach dem Ersten Weltkrieg, als die Alliierten ihnen einen eigenen Staat verweigerten, und schließlich bis zum blutigen Feldzug des damaligen Präsidenten Saddam Hussein, der die Kurden im Irak vollständig vernichten

wollte. Es ist eine Geschichte, die sie vorsichtig und misstrauisch gemacht hat. Sie hat aber auch die Brüder Salih mit einer Art Sendungsbewusstsein erfüllt. Die Kurden haben vielleicht keinen eigenen Staat, aber wenn Seddiq und Rafiq weitermachen, dann wird ihr Volk nicht ohne eine reich dokumentierte Geschichte dastehen.

In der kühlen Abendluft trat Stille ein. Seddiqs Bitte hatte mich überrascht. Er und Scheich Mohammed Ali Qaradaghi kannten sich seit mehr als 20 Jahren. Seddiq erklärte mir

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