Die Großmutter, die mir ähnlich sah

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Sie sehe Ihrer Großmutter verblüffend ähnlich, das hörte Melitta Breznik immer wieder. Wer war diese Frau, die in einer psychiatrischen Klinik während der NS-Zeit ums Leben kam? Und wie starb sie? – Eine Spurensuche

Fotografie: Mayk Wendt

Ich bin in Kapfenberg aufgewachsen, einer kleinen Industriestadt in der Steiermark. Während meiner Kindheit hat meine Mutter manchmal aus heiterem Himmel gesagt: „Du siehst deiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich.“ Sie war nach Auskunft meiner Mutter 1943 in einer deutschen Psychiatrieklinik „gestorben“. Viel mehr erfuhr ich von ihr nicht. In meinem ersten Assistenzjahr in der Psychiatrie in Solothurn – ich war zu Beginn meiner psychiatrischen und psychotherapeutischen Ausbildung in die Schweiz gezogen – hat mir eine deutsche Kollegin einmal von der Euthanasie-Gedenkstätte in Hadamar erzählt. Hadamar liegt in Hessen und beherbergt ein psychiatrisches Großkrankenhaus. Es war der Ort, an dem meine Großmutter ihr Leben beendete. Nach diesem Gespräch wurde ich mit einem Mal von einem Eifer erfasst, zu ergründen, ob sich über ihren Tod mehr in Erfahrung bringen ließ. Damit begannen meine Recherchen – und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Euthanasie in der deutschen NS-Zeit, mit der „Vernichtung“ von psychisch Kranken, geistig Behinderten oder Menschen mit niedriger Intelligenz, die von dem Regime als „unwertes Leben“ oder als „Ballastexistenzen“ bezeichnet wurden.

Bertha Johanna Schulz, meine Großmutter, war nach den Worten meiner Mutter aus einem Versehen heraus in der Psychiatrie gelandet, die sie dann nicht mehr verlassen habe. Sie sei nicht „verrückt“ gewesen.

Mehr war damals von Mutter nicht zu erfahren gewesen, selbst wenn ich gelegentlich fragte, wie denn meine Oma aus Deutschland gewesen sei, wie sie wirklich ausgesehen hatte, war nicht viel in Erfahrung zu bringen und ich merkte schnell, hier war genug gefragt, die Haltung meiner Mutter schlug in eine diskrete Ablehnung um. Damals konnte ich mir keinen Reim darauf machen und mied über die Jahre unbewusst das Thema, ich wollte Mutter nicht verärgern. Als ich schließlich als erwachsene Frau von meiner Absicht erzählte, zu Großmutters Verbleib Nachforschungen zu beginnen, gab Mutter erst nach einigen Wochen ihr Einverständnis und entschloss sich letztendlich sogar dazu, mich auf der Reise zu den vier psychiatrischen Kliniken zu begleiten, in denen jene Bertha Johanna Schulz nach den ersten telefonischen Auskünften einer Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar nacheinander untergebracht gewesen war.

Während der Jahre des nationalsozialistischen Terrors waren Schizophrene, Alkoholiker, Epileptiker und sogenannte Asoziale als „minderwertiges Leben“ abqualifiziert worden, und bereits lange vor dem Krieg hatten Schüler Rechenbeispiele zu lösen, wie vi

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