AUS DEM VOLLEN SCHÖPFEN

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„Durch Reichtum ist der Mensch nicht froh zu machen“, heißt es in der Katha Upanishad. Aber worin besteht überhaupt Reichtum? Was brauchen wir wirklich, um die Fülle des Lebens auszukosten und uns er-füllt zu fühlen?

FOTOS: SUSN MATTHIESN / UNSPLASH, ADOBE STOCK

„Perfektion ist offenbar nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann“, ahnte schon der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944) in seinem philosophisch geprägten Erlebnisbericht „Wind, Sand und Sterne“. Dieser umgekehrte Blick auf unsere Welt, in der es doch allzu oft ums „Mehr“ geht – mehr erleben, mehr besitzen, mehr erreichen –, kann uns auch heute noch wichtige Impulse geben. Nicht nur, aber auch als Yogi*nis. Denn letztlich steckt darin eine Antwort auf die eine große Frage, die wir uns früher oder später alle stellen: Wie führen wir ein erfülltes Leben? Eines, in dem wir nicht nur keinen Mangel empfinden, sondern tatsächlich das Gefühl haben, es sei alles da – und zugleich auch nichts zu viel. Vielleicht sollten wir das französische „perfection“ aus dem Zitat da lieber mit „Vollkommenheit“ übersetzen: Das erinnert uns weniger an glattgebügelte Leblosigkeit, an zur Cartoonhaftigkeit gefilterte Gesichter auf Instagram und überzogene Leistungsansprüche, denen wir ohnehin nie genügen können. Und doch – auch vom Gefühl der Vollkommenheit fühlen wir uns im Alltag oft weit entfernt. Aber warum?

Aus der Yogaphilosophie kennen wir die vier Purusharthas, die Hauptbestrebungen des menschlichen Lebens, oder wörtlich übersetzt: die „Ziele der Seele“ (Purusha = höchstes Wesen, Bewusstsein, Seele, Artha = Ziel, Zweck, Nutzen). Zwei davon korrespondieren gleich auf den ersten Blick mit dem Thema Fülle, nämlich zum einen Artha, das auch das Streben nach Wohlstand und Erfolg bedeutet, zum anderen Kama, der Wunsch nach sinnlichem Vergnügen. Dass die beiden anderen, Dharma, die Pflichterfüllung, und Moksha, die spirituelle Befreiung dazu nicht im Widerspruch stehen, sondern, im Gegenteil, unbedingt dazu gehören, wenn es um das Erreichen wahrer Fülle geht, wird sich im Folgenden noch zeigen. Kleiner Spoiler vorab: Wie so gut wie immer im Leben geht es auch hier um … genau: Balance!

Wie aber schaffen wir es, uns so auszubalancieren, dass uns unser Leben reich und erfüllt erscheint? Warum fühlen wir uns selbst in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren – oder vielleicht gerade hier – so oft leer? Dass Ratgeberbücher und Workshops zum Thema Fülle boomen, muss auch damit zu tun haben, dass wir bei allem Besitz und bei aller Wohlgenährtheit doch nicht von dem Gefühl loskommen, dass uns irgendetwas fehlt. Der slowakische Autor Peter Bestvina leitete sein für das Goethe-Institut geführtes Interview mit dem Psychotherapeuten Vladimír Hambálek