VERLOREN INEISIGERKALTE

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EIN JUNGER SKIFAHRER VERIRRT SICH IM TIEF VERSCHNEITEN GEBIRGE. DIE BERGRETTUNG KANN IHN NICHT FINDEN. DOCH DER EINSATZLEITER GIBT NICHT AUF

VON Thomas Käsbohrer

FOTOMONTAGE: MARKUS WARD; FOTOS (SCHNEESTURM) © MARKUS THOMENIUS/ALAMY STOCK PHOTO; (MANN) © ROBERT C PAULSON JR/ALAMY STOCK PHOTO

Ein Tag im Spätwinter. Sven Mühler *, 27, beschließt, den Tag lieber beim Skifahren als vor dem PC zu verbringen. Er packt seinen Skioverall ein – Ski hat er keine, er leiht sich lieber das neueste Modell bei einem Sporthändler in Grainau – und fährt mit seinem Wagen zur Eibsee-Talstation. Die Seilbahn bringt ihn zum Zugspitzgipfel und die Gletscherbahn im Süden zu seinem Ziel: dem Zugspitzplatt.

Dieser Bergkessel von zweieinhalb Kilometern Durchmesser liegt weit oberhalb der Baumgrenze. Das Wetter ist eher mäßig, es schneit seit Tagen ununterbrochen, aber dafür ist der Neuschnee grandios. Als der 27-Jährige versucht, seiner Mutter eine SMS zu senden, hat sein Handy keinen Empfang. Mühler macht sich keine Gedanken.

Da das Skigebiet auch an diesem verschneiten Tag gut besucht und durch seine Lage so beschaffen ist, dass man sich nicht verirren kann, genießt er die Abfahrten rings um die fünf bis sechs Lifte, die wie in einer Bratpfanne liegen. Nur die Wolken trüben sein Vergnügen an diesem Tag. Von wenigen blauen Löchern am Himmel abgesehen herrscht diffuses Licht, das alle Konturen verschluckt und manchen Buckel auf der Piste erst erkennen lässt, wenn der Ski hart aufgleitet.

Mühler ist ein erfahrener Skifahrer, er kennt das Platt von vielen Wintertagen, bewegt sich mit Lust im Tiefschnee und kostet jeden Meter aus. Er liebt es, die präparierte Piste zu verlassen, in ungespurtes Gebiet einzutauchen und die Varianten zu fahren, für die das Skigebiet geschätzt wird.

Es ist früher Nachmittag, als er erst nach einer längeren Abfahrt am Fuß eines Steilhangs im Tiefschnee abschwingt und aufstoppt. Er schaut sich kurz im Schneegestöber um, aber wie schon den ganzen Tag umgibt ihn nichts als konturloses Weiß. Doch halt: Im Schneefall erkennt Mühler seitwärts schemenhaft Felsen. Hier war er noch nie. Kein Geräusch, das ihn bis jetzt begleitete, dringt zu ihm. Kein Geklapper aneinderschlagender Ski, kein Ruf eines Skifahrers, kein Rattern eines Liftseils an den Stützen. Nur das Knistern fallender Schneeflocken auf seinem gelben Overall. Sonst ist es totenstill.

Sven Mühlers Denken, seine Instinkte funktionieren. Er spürt, wie sich sein Bauch zusammenzieht und

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