Die rätselhaften frühen Jahre

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Die Anfänge des Inselklosters auf der Reichenau im 8. Jahrhundert liegen in unerfreulich dickem Nebel. Schriftliche Quellen gibt es keine. Erst aus der Zeit rund 100 Jahre nach der Gründung erfahren wir mehr.

Eine moderne Skulptur des heiligen Pirmin auf der Reichenau. Der Wanderprediger und spätere Bischof soll das Kloster auf der Insel im Bodensee 724 gegründet haben. Im Hintergrund der Turm der Kirche St. Georg.
Mauritius Images / Alexander Schnurer / imageBROKER

Die Mönchsgemeinschaft auf der Bodenseeinsel entstand in einer dunklen Periode: Die ersten drei Dekaden des 8. Jahrhunderts sind vielleicht die am schlechtesten dokumentierte Phase der mittelalterlichen Geschichte West- und Mitteleuropas überhaupt. Für Alamannien ist die Quellenlage geradezu jämmerlich. So kann die Geschichtswissenschaft hier bestenfalls ein Spektrum an Möglichkeiten ausloten: Aus späten, sich widersprechenden Erinnerungen und Erzählungen müssen Historiker behutsam ein denkbares Bild der Frühgeschichte des Inselklosters entwerfen.

Eine Jenseitsvision in Versen bringt Licht ins Dunkel

Die älteste Quelle, die wir zu den Anfängen der Reichenau haben, entstand erst ein Jahrhundert nach der Gründung. Sie ist damit von den Ereignissen so weit entfernt wie wir heute vom Prozess gegen Adolf Hitler, der sich 1924 wegen seines Putschversuchs verantworten musste. Zeitzeugen konnten jedenfalls keine mehr befragt werden.

Am 29. Oktober 824, einem Samstag, erkrankte der Klosterlehrer der Reichenau, ein Mönch namens Wetti. Laut den Berichten wähnte er sich bereits ins Jenseits entrückt. Am Mittwochmorgen der folgenden Woche ging es Wetti jedoch wieder so gut, dass er den anderen Mönchen über seine Jenseitsreise berichten konnte.

Er fand dann noch Zeit, einige Briefe zu diktieren, verstarb aber in der folgenden Nacht vom 3. auf den 4. November 824. Wettis Jenseitsvision hat die Reichenauer Gemeinschaft offenkundig tief beeindruckt: Gleich zwei Berichte darüber sind überliefert, eine Fassung in Prosa und eine in Versen.

Die Versfassung schuf Walahfrid Strabo – ein hochbegabter Schüler Wettis, damals gerade 18 Jahre alt (siehe auch Artikel Seite 36). Walahfrid schilderte in seinen Versen sein Kloster und die Insel Reichenau: „Dort, wo der Rhein von den Höhn der ausonischen Alpen herabfließt, / Weitet er sich gegen Westen und wird zum gewaltigen Meere. / Mitten in dieses Meeres Flut erhebt sich die Insel, / Aue wird sie genannt, ringsum liegen Deutschlands Gebiete; / Sie aber bring

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