Tumult in der Milchstraße

16 min lesen

ASTRONOMIE

Hochgenaue Daten zur Bewegung vieler Millionen Sterne ermöglichen es, die ereignisreiche Geschichte unserer Galaxie zu rekonstruieren. Sie ist viel turbulenter, als lange Zeit vermutet wurde.

Ann Finkbeiner ist Wissenschaftsjournalistin in Baltimore.
TRYFONOV / STOCK.ADOBE.COM

Der Astronom Bob Benjamin von der University of Wi-sconsin-Whitewater hat die letzten beiden Jahrzehnte damit verbracht herauszufinden, wie die Milchstraße aussieht. Das ist keine einfache Aufgabe, weil wir uns im Inneren dieser Galaxie befinden und sie deswegen nicht von außen betrachten können. Aber mit einigen gewieften Lösungen, hofft Benjamin, »lässt es sich in Erfahrung bringen«. Dabei geht er von dem groben Gesamtbild aus, das sich aus verschiedenen astronomischen Erkenntnissen zusammenfügen lässt: Im Zentralbereich befindet sich ein vergleichsweise dichtes, balkenförmiges Band von Sternen, das in eine Scheibe aus Gas und Sternen eingebettet ist. Diese Materie erstreckt sich in so genannten Armen teils spiralförmig nach außen. Alles wird umhüllt von einem dünnen, kugelförmigen Halo aus locker verstreuten Sternen.

Bereits der Weg hin zu einem solchen groben Überblick über die Milchstraße war so mühevoll, dass Forscher wie Benjamin in Interviews immer wieder die Parabel von den Blinden und dem Elefanten zitiert haben: Männer, die nichts sehen können, berühren jeweils bloß den Rüssel, das Ohr oder das Bein des Tieres. Sie beschreiben eine Schlange, einen Fächer oder einen Baumstamm; ein Eindruck der gesamten Gestalt bleibt ihnen versagt. Im Gegensatz dazu war den Astronomen immerhin das Ausmaß ihres Unwissens klar. Ihnen war bekannt, dass die Sterne in verschiedenen Teilen der Galaxie unterschiedlich alt waren, aber sie konnten nicht erklären, warum. Sie wussten, dass sich Sterne in gigantischen Gaswolken bilden, aber deren Vermessung erschien so gut wie unmöglich. Bei anderen Galaxien stellten sie fest, wie Verschmelzungen die Bestandteile durcheinanderwirbeln, aber ob Ähnliches jemals früher in der Milchstraße passiert ist,war offen. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn ging Benjamin davon aus, die Galaxis befände sich in einem Gleichgewichtszustand und sei seit ihrer Entstehung stabil und geordnet.

Dieses Bild hat sich in den letzten Jahren geändert. Neue Erkenntnisse erwuchsen, seit im Rahmen einer Reihe von Durchmusterungen große Zahlen von Sternen systematisch kartiert wurden. Insbesondere die Europäische Weltraumorganisation (ESA) hat hier eine enorme Datenfülle geliefert. Der ESA-Satellit Hipparcos erfasste bis zu seinem Missionsende 1993 rund 2,5 Millionen Sterne; seine Nachfolgerin, die Raumsonde Gaia, hat bis 2023 rund 1,8 Milliarden Exemplare vermessen.

Jede Menge weitere Teleskope und Messkampagnen mit allerlei Akronymen haben zu dem Datenschatz beigetragen: Sloan Digital Sky Survey (SDSS) m

Dieser Artikel ist erschienen in...

Ähnliche Artikel

Ähnliche Artikel