Die Macht der Gute-Nacht-Geschichte

6 min lesen

SPRACHENTWICKLUNG

Kindern in Deutschland wird zu wenig vorgelesen. Das ist nicht nur schade, weil damit Familienrituale fehlen. Denn Vorlesen bildet und verbindet.

FREEEMIXER / GETTY IMAGES / ISTOCK

Abends ist bei uns Vorlesezeit. Wir haben schon Dinosaurier besucht und sind mit Grimms Märchen in die Welt der Feen, Froschkönige und Prinzessinnen abgetaucht. Wir haben über die Scherze des Raben Socke gelacht und konnten beruhigt das Licht ausmachen, als auch der kleine Siebenschläfer endlich eingeschlafen war. Aktuell sind wir täglich zu Gast auf einer Schmuddelfinger Müllkippe, denn unser Sohn bekommt nicht genug von den Abenteuern der »Olchis«. Vorlesen ist unser Ritual, unser Betthupferl und unsere Zeit, in der wir den Tag hinter uns lassen.

Ein Blick auf die Zahlen zeigt jedoch: Längst nicht jedem Kind wird vorgelesen. 36,5 Prozent der Ein- bis Achtjährigen kommen laut der Bildungsstudie »Vorlesemonitor 202323« der Stiftung Lesen selten bis nie in den Genuss. Zudem gibt es in jeder zweiten Familie höchstens zehn Kinderbücher. Fehlt damit nur ein Abendritual, das Eltern und Kinder zusammenbringt? Oder kann die Gute-Nacht-Geschichte mehr?

»Vorlesen fördert die frühe Sprachentwicklung, etwa mit Blick auf das Vokabular«, sagt Ralph Radach, Professor für allgemeine und biologische Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal. »Durch das Vorlesen bekommen Kinder ein Gefühl dafür, was ein Wort in unterschiedlichen Kontexten bedeutet« – ein wichtiger Aspekt, wenn es um das Erlernen von Sprache geht.

Daniela Lukaßen-Held ist Journalistin und schreibt über Medizin- und Gesundheitsthemen, Kinder-, Jugend- und Familienthemen sowie New Work. Sie hat Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik sowie Geschichte studiert.

Die Wirkung auf den Wortschatz untersuchte eine Forschungsgruppe um Jessica Logan von der Ohio State University. Aus einer Sammlung der 200 beliebtesten Bilderbücher wählten die Forschenden 60 zufällig aus. Dann zählten sie, wie viele Begriffe in jedem Buch enthalten waren. Basierend darauf berechneten sie die Anzahl der Wörter, die ein Kind von der Geburt bis zu seinem fünften Geburtstag auf diese Weise hört. Das 2019 veröffentlichte Ergebnis lässt aufhorchen: Demnach sind es bei Kindern, denen höchstens alle zehn Wochen etwas vorgelesen wird, 4662 Wörter. Kinder, denen täglich vorgelesen wird, lernen 296 660 Wörter kennen, und jene, denen fünf Bücher pro Tag vorgelesen werden, sogar 1 483 300 – also weit über eine Million mehr als Kinder, die ohne Vorlesen aufwachsen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass in dieser »Million-Wörter-Lücke« eine Ursache für die großen Unterschiede im kindlichen Vokabular zu finden ist, die weit reichende Folgen haben kann: So seien Mädchen und Jungen, denen vorgelesen wird, beim Schuleintritt

Dieser Artikel ist erschienen in...

Ähnliche Artikel

Ähnliche Artikel