Mailen, verlieben, verschwinden

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Getroffen hat man den anderen noch nie, aber bereits am Bildschirm fantasiert man von einer Beziehung

ILLUSTRATIONEN: Sebastian Schwamm ––– TEXT: Susanne Kaloff

Damals fehlte mir ein Begriff, um zu beschreiben, was passierte. Heute weiß ich: Es war ein klassischer Fall von illusionship. Das neueste in der Reihe frustrierender Online-Dating-Phänomene setzt sich zusammen aus Illusion und relationship, also Beziehung. Vor lauter Bindungswilligkeit lehnt man sich verbal weit aus dem Fenster, ohne das Haus zu verlassen. Wie bei meiner romantischen Fantasy-Beziehung im März 2019.

Ich machte Urlaub in New York und hatte ein Tinder-Match, ohne Treffen. Als ich bei der Abreise am Flughafen-Gate stand, schrieb er, wie schade es sei, dass wir uns nicht persönlich kennengelernt hätten, wann ich wiederkommen würde. Zurück in Deutschland texteten wir regelmäßig, folgten einander auf Instagram und gratulierten uns gegenseitig zum Geburtstag. Dann kam die Pandemie, und die ausgedachte Fernbeziehung nahm Fahrt auf. Der Born-and-raised-New-Yorker schickte mir kleine Aufmerksamkeiten mit der Post, wie süß. Ich sendete ihm zum Dank ein Paket mit Lebkuchen. Wir telefonierten ein einziges Mal, schrieben irgendwann aber jeden Tag. Ich stellte mir vor, wie ich mit ihm, von dem ich nicht mal wusste, wie er roch, eine Wan-Tan-Suppe in Chinatown essen, Schlittschuh auf der Eisbahn am Rockefeller Center fahren würde. Er schrieb, er wolle mit mir eingehakt wie auf dem Cover des Bob-Dylan-Albums „The Freewheelin’“ durchs East Village spazieren. Es war schön zu wissen, dass auf der anderen Seite der Erde einer sitzt, der mich fühlt und den ich fühle. Wenn die Pandemie vorbei wäre, würden wir uns sehen. Davon war ich überzeugt.

Mit meiner Irgendwie-schon-aber-eigentlich-nicht-Beziehung bin ich nicht allein. Eine Bekannte schrieb wochenlang mit einem Fremden, mehrmals täglich. Auch als er in Marrakesch war. Bald sei er in Deutschland, dann würden sie sich treffen – noch am Tag seiner Heimkehr wolle er sie direkt vom Flughafen aus besuchen, damit man sich nach all den mürben Wochen der Sehnsucht in die Arme schließen könne. Er kam nicht. Der Grund? Nach seiner langen Abwesenheit im Ausland hatte er einfach zu viele E-Mails zu bearbeiten. Sie gab ihm noch eine Chance. Beim zweiten Versuch scheiterte es an seinem angeblich verhobenen Rücken. Außerdem habe er schlechte Laune, schrieb er, und die wolle er nun wirklich nicht an ihr auslassen. Man einigte sich, er werde sich einfach wieder melden, wenn es ihm bes

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