Später Drang zum „Platz an der Sonne“

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GEBIETSERWERB DES DEUTSCHEN REICHS

Erst nach der Berliner „Kongo-Konferenz“ 1884/85 begann auch Deutschland mit dem Erwerb von Kolonien. Die Konkurrenz der europäischen Mächte um wirtschaftlichen und militärischen Einfluss hatte sich in den Jahren davor verschärft – nun erschien es auch für das aufstrebende Kaiserreich angesagt, einen „Platz an der Sonne“ einzufordern.

In Berlin einigten sich die Konferenzteilnehmer 1884/85 auf die Grundzüge der Ausbeutung Afrikas. Nach dieser französischen Karikatur war es Bismarck, der den einzelnen Mächten Stücke der Torte Afrika zuteilte.
AKG

Mit einem der bekanntesten historischen Bonmots beschrieb der englische Historiker John Robert Seeley einmal die Entstehung des British Empire als Zufallsprodukt: „Wir scheinen sozusagen in einem Anfall von Geistesabwesenheit die halbe Welt erobert und bevölkert zu haben.“ Ein ähnliches Bild herrscht auch in Deutschland vor: Beim Kaiserreich habe es sich um eine Kolonialmacht wider Willen gehandelt. Hatte Otto von Bismarck nicht betont, dass er ein entschiedener Gegner kolonialer Expansion war? „Ich will auch gar keine Kolonien. Die sind bloß für Versorgungsposten gut“, verkündete der Reichskanzler, der in überseeischen Besitzungen lediglich ein Prestigeobjekt sah, das man sich nicht leisten könne: „Diese Kolonialgeschichte wäre für uns genauso wie der seid[e]ne Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden haben.“ Noch deutlicher wurde er Anfang der 1880er Jahre, als er im Reichstag demonstrativ erklärte: „Solange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik.“

Schon wenige Jahre später waren diese Worte Makulatur. Auf der Berliner Konferenz (1884/85, der sogenannten Kongo-Konferenz), von Bismarck ausgerichtet, wurde der afrikanische Kontinent unter den europäischen Mächten aufgeteilt, und Deutschland schuf mit dem Erwerb von Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika (Namibia) und Deutsch-Ostafrika (Tansania) den Grundstock seines Kolonialreichs. Hinzu kamen in den folgenden Jahren lediglich Deutsch-Neuguinea (1885), die chinesische Provinz Kiautschou um die Stadt Tsingtao (Qingdao; 1897) und Deutsch-Samoa (1899).

Das Kaiserreich zählt zu den Mächten, die zu Großbritannien aufschließen wollen

Wie kam es zu diesem so raschen Sinneswandel? War die öffentliche Erwartungshaltung zu groß geworden? Wollte Bismarck außenpolitischen Druck auf England ausüben? Sich gar über einen Umweg Frankreich wieder annähern – seit dem Krieg von 1871 ein unversöhnlicher Gegner des Reiches, aber zugleich eben auch ein Konkurrent Englands in Nordafrika und Asien? Oder wollte Bismarck nur von inneren Spannungen ablenken und die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse auf gemeinsame nationale Ziele umdirigieren?

Um den Richtungswechsel besser zu verstehen, muss man jedoch zunächst den Blick etwas weiten, über

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