ACH, DAS IST DOCH DIAGNONSENS!

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ERST GETRIGGERT SEIN, DANN VON DER BESTEN FREUNDIN DURCHDIAGNOSTIZIERT WERDEN: ES IST ZWAR SCHÖN, DASS WIR ALLE SO AWARE SIND, WAS MENTALE GESUNDHEIT BETRIFFT. ABER PSYCHOLOGISCHES HALBWISSEN WIRD GERADE ZUR WAHREN RED FLAG, FINDET UNSERE AUTORIN …

TEXT: JULIA WERNER

ICH ERKENNE MICH SELBST AM BESTEN Selbstdiagnose-Videos werden derzeit auf TikTok zum gefährlichen Trend. Nutzer*innen sprechen darin über ihre Symptome, füllen Online-Fragebögen, etwa zu ADHS und Autismus, aus und ziehen ihre Schlüsse
FOTO: RENATA GARIPOVA/STOCKSY

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Vor einigen Jahren hatte ich mal eine Beziehung mit einem Narzissten. Er war ziemlich gut im Gaslighting (ich bin mir sicher, Sie wissen bereits, was das ist – falls nicht, folgt die Erklärung später im Text) und auch ansonsten ziemlich toxisch. Ich bin aber kein Opfertyp, und als der Fiesling mir meine Freund*innen schlechtmachen wollte, schrie ich ihn am Telefon an, woraufhin er sich nie wieder meldete. Und dann ging ich in Therapie, vorsichtshalber schon mit Autodiagnose. Schließlich hatte ich alles zum Thema Narzissmus ergoogelt und wusste jetzt, dass ich mich gespiegelt hatte.

In dieser Zeit witterte ich überall Soziopath*innen. Wenn eine Freundin mit einem Mann Sex gehabt hatte und er jetzt einfach nicht mehr anrief, war er ein Narzisst, glasklar (früher hätte man einfach Arschloch gesagt). Und selbst wenn es mit einer ihrer neuen Bumble-Eroberungen eigentlich ganz okay lief, scannte ich alle Erzählungen meiner Freundin auf Red Flags, also Verhaltensweisen, bei denen die Alarmglocken angehen sollten. Und das, obwohl der Mann vielleicht nur einmal nicht pünktlich war. Dass wir es da einfach mit einem ganz normalen Waldschrat zu tun haben könnten, kam mir nicht mehr in den Sinn. Natürlich verlief die Therapie anders, als ich mir das vorgestellt hatte, und meine schlechte Erfahrung war nur noch ein Anekdote. Seither bin ich vorsichtiger mit meiner Küchenpsychologie, weil ich eines jetzt weiß: dass ich gar nichts weiß.

Warum aber sind wir neuerdings so besessen von dem Thema Psychologie? Christine Kirchhoff, Professorin an der International Psychoanalytic University Berlin, hat dafür folgende Erklärung: „Wenn man eine schlechte Erfahrung hatte, die aufs Selbstwertgefühl geht, gibt einem eine Diagnose die Macht zurück. Man ist dann nicht mehr das Opfer. Gleichzeitig entwertet man die diagnostizierte Person.“ Wenn ich zurückdenke, habe ich nun fast ein schlechtes Gewissen.

PLÖTZLICH SIND ALLE VON ALLEM „GETRIGGERT“

Immerhin war ich damals Trendsetterin. Denn jetzt werden einem überall psychologische

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