So gelingt Verzeihen

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Jeder Mensch bedarf dann und wann der Verzeihung anderer – es lässt sich nicht ausschließen, dass wir uns irgendwann einmal etwas zuschulden kommen lassen. Wenn uns das bewusst ist, fällt es uns leichter zu vergeben. Allerdings kann es auch Erfahrungen geben, die unverzeihlich bleiben. Dann liegt es an uns, wie viel Macht wir diesem Teil unseres Lebens geben. Vielleicht gelingt es uns sogar, aus dem Erlebten neue Stärke zu gewinnen.

FOTO: Donson/peopleimages.com | adobestock

Eigentlich kann ich mich glücklich schätzen. In Bezug auf meine frei gewählten Beziehungen zu Freundinnen und Freunden gibt es in meinem Leben eher wenig zu verzeihen. Vielleicht weil ich nur Menschen an meinem Leben teilhaben lasse, die es gut mit mir meinen. Vielleicht weil Freundschaft für mich ein hohes Gut ist und ich versuche, behutsam umzugehen mit denen, die ich mir als Gefährtinnen und Gefährten erwählt habe. Vielleicht auch weil ich leicht um Verzeihung bitten kann, eingedenk der Tatsache, dass ich genauso fehlbar bin wie wir alle.

Weniger leicht gefallen ist es mir, meiner Familie zu verzeihen. Die Schläge aufs Hinterteil, wenn ich als Kind nicht gehorcht habe? Geschenkt. Das gehörte in den 60er Jahren (leider) zur Erziehung dazu. Außerdem war meinem eher sanftmütigen Vater anzumerken, dass ihm schwerfiel, diesen „Auftrag“ auszuführen. Weniger leicht verarbeitet habe ich die Ungerechtigkeiten meiner Mutter, die meine älteren Geschwister mir, der ungewollten Nachzüglerin, vorzog. Noch zu Beginn meiner 50er Jahre musste ich mir eingestehen, dass der alte Groll auf meine Familie immer noch da war.

Groll aber hat viel mit dem Wort „Geröll“ zu tun. Geröll, das in unserem Inneren arbeitet, etwas Unabgeschlossenes, etwas nicht Aufgeräumtes, etwas nicht Bewältigtes. Diese Art Geröll durchzog auch die Beziehung zu meiner Familie. Erst durch die Beschäftigung mit Psychologie, Neurowissenschaften und Biographiearbeit kam ich zu der Erkenntnis: Ja, meine Eltern hätten vieles besser machen können. Aber sie waren Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit und sind mit Eltern aufgewachsen, die kaum Gefühle zeigen konnten. Und sie mussten, anders als heute, ihre Kinder ohne Hilfe erziehen. Hilfe, die es weder für Eltern mit – heute würde man sagen – verhaltensauffälligen Kindern gab noch für die Kinder selbst. Geholfen hat mir auch eine, vielleicht mit dem Alter zunehmende Fähigkeit: die zur Selbstreflexion. Darin wurzelt die Erkenntnis, dass niemand von uns durchs Leben geht, ohne irgendwann schuldig zu werden. Diese Erkenntnis, dass wir selbst immer mal wieder im Leben der Verzeihung anderer bedürfen, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, anderen Menschen verzeihen zu können: Der eigene Beitrag, das Selbstbewusstsein dafür, vielleicht auch selber Teil des Problems zu sein, macht Verzeihen oder Vergeben tatsächlich leichter.

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