„Viele Frauen mit AD(H)S entwickeln Strategien, um die Symptomatik zu kompensieren“

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INTERVIEW

Frauen und Mädchen mit AD(H)S erhalten viel seltener eine Diagnose als Männer und Jungen, denn ihre Symptome fallen weniger stark auf: Sie sind weniger hyperaktiv, dafür verträumt, unaufmerksam und vergesslich. Bleibt ihre Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung unbehandelt, kann das weitreichende Folgen haben, etwa dem Selbstwertgefühl schaden und Erkrankungen nach sich ziehen. Die AD(H)S-Expertinnen Dr. Christine Carl, Dr. Ismene Ditrich, Dr. Christa Koentges und Dr. Swantje Matthies wissen, wie Betroffene mit ihrer Besonderheit Frieden schließen, ihre vielen Stärken entdecken und gut mit AD(H)S leben können.

Was genau versteht man unter AD(H)S und welche Symptome gehen damit einher?

Dr. Christine Carl: Die Abkürzung AD(H)S steht für die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Die damit einhergehenden Symptome treten vor dem zwölften Lebensjahr auf und stammen aus den Bereichen Denken, Aktivität, Impulsivität und Affekt, also die Stimmung betreffend. Unter den Hauptsymptomen, anhand derer die Diagnose gestellt wird, gibt es zunächst die Aufmerksamkeitsu n d Konzentrationsprobleme. Damit ist die Schwierigkeit gemeint, die Aufmerksamkeit und die Konzentration über eine längere Zeit auf eine Tätigkeit zu richten, die ohne Neuigkeitswert ist und/oder kein Interesse auf sich zieht. Für Kinder können das beispielsweise Hausaufgaben oder das Ausräumen der Spülmaschine sein, für Erwachsene die Steuererklärung, das Lesen langwieriger Texte oder Haushaltsaufgaben. Das zweite Hauptsymptom ist die motorische Unruhe, auch Hyperaktivität genannt. Klassischerweise ist damit ein Verhalten wie das vom Zappelphilipp im „Struwwelpeter“ gemeint, mit seinem Zappeln, Kippeln, Herumhampeln. AD(H)S kann sich aber auch mehr innerlich zeigen und äußert sich zum Beispiel in einer inneren Unruhe, in einem Sich-getrieben-Fühlen und Unter-Strom-Stehen. Eine motorische Unruhe kann aber auch gänzlich fehlen. Das dritte Kernsymptom ist die Impulsivität. Gemeint ist damit, dass Betroffene aus dem Affekt, also wenig überlegt, handeln und überschießend – zum Beispiel mit Schreien oder Beleidigungen – reagieren.

Sie konzentrieren sich in Ihrem Buch speziell auf AD(H)S bei Frauen und Mädchen. Inwiefern äußert sich die Erkrankung bei ihnen anders als bei Männern und Jungen?

Dr. Christine Carl: Mädchen scheinen häufiger am Subtyp ADS zu leiden, sie weisen in Studien im Vergleich zu Jungen insgesamt weniger hyperaktiv-impulsive Symptome auf. Ihre Probleme werden dadurch erstmal weniger schnell erkannt, da ihre Verträumtheit und/oder Abgelenktheit in der Schule weniger stören als laute oder auch als oppositionell erlebte Jungs. Oft zeigen betroffene Mädchen daher erst zu Beginn der Pubertät Schwierigkeiten wie zum Beispiel chaotisches Verhalten, Unzuverlässigkeit oder