„ DER TIEFE KERN DER SPIRITUALITÄT IST RADIKALE EHRLICHKEIT “

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Die Welt steuert auf eine Katastrophe zu, Optimismus sei keine Option, glaubt der Philosoph und Autor Thomas Metzinger („Der Elefant und die Blinden“, „Bewusstseinskultur“). Welche Haltung wir stattdessen einnehmen können, um unsere Würde zu bewahren, darüber sprachen wir mit ihm via Videochat.

FOTOS: JAVIER ALLEGUE BARROS / UNSPLASH, VEYSEL ÇELIK

Die große, leuchtende Transformation der Welt stünde kurz bevor, hört man in spirituellen Kreisen derzeit immer wieder. Machen wir es uns mit diesem „Alles wird gut“-Optimismus nicht zu leicht?

Nun, die sogenannte spirituelle Szene erfüllt sich selbst bestimmte emotionale Bedürfnisse, wie es früher auch die Religionen getan haben. Da wäre zunächst mal das Verleugnen der eigenen Sterblichkeit. Wir glauben einfach zusammen an etwas, das wahr sein soll – und blenden andere Tatsachen aus. In der psychedelischen Szene der USA ist Ähnliches zu beobachten: Auch dort glaubt man, die große neue Renaissance stünde kurz bevor. Ich befürchte aber, dass da eine bestimmte Form von Größenwahn am Werk ist, die vollkommen überschätzt, wie viele Menschen tatsächlich „spirituell“ – im Sinne von ernsthaft und wahrhaftig – leben wollen. Das sind nämlich nur wenige. Wenn wir wirklich ehrlich zu uns wären, müsste uns klar sein, dass wir zum Beispiel die Klimakatastrophe nicht mehr abwenden können. Auch, weil die Feinde der Menschheit, etwa große Investmentbanker oder die Fossilindustrie, zu viel Macht haben und weil die Allgemeinbevölkerung in den reichen Ländern veränderungsunwillig ist. Da nützt es uns wenig, wenn wir uns eine positive Vision basteln und uns einreden, alles würde schon irgendwie gut werden. Die eigentliche Frage ist in meinen Augen eine andere.

Nämlich?

Wenn das Ding schief geht, was bedeutet Spiritualität dann? Wie bewahrt man in solch einer historischen Extremsituation seine Würde, seine Selbstachtung?

Puh, das klingt kompliziert.

Ja, vor dieser Frage drückt man sich gerne, auch und gerade in den vermeintlich spirituellen Kreisen. Wie gesagt, es geht um Bedürfnisbefriedigung. Neben dem Leugnen der eigenen Sterblichkeit ist ein zentrales Thema das Bedeutungserleben, das Konsumieren und Kultivieren von Erlebnissen des Bewegt- und Berührtseins. Es ist zutiefst menschlich, dass wir Beweise für die Sinnhaftigkeit unseres Seins und Handelns finden wollen. Das lässt sich auch wissenschaftlich belegen: Unser Hirn sehnt sich nach so viel Bedeutung wie möglich, nach innerem Zusammenhang.

Sehr sinnvoll haben wir in den letzten Jahrzehnten allerdings nicht gehandelt ...

Nein, im Gegenteil. Es ist geradezu absurd – seit mindestens 40 Jahren wissen wir, dass unsere Art zu leben auf Dauer nicht tragbar ist, dass wir damit den Planeten zerstören. Und trotzdem waren wir als