„Verachtung nach unten“

14 min lesen

VORABDRUCK

Im neuen Buch beschreibt Alexander Wendt die Entstehung des woken Mileus und zeichnet nach, wie die „Erwachten“ die Menschen an der Periperie verachten. Doch wir sollten uns die Bürgergesellschaft von den selbst ernannten Moraleliten nicht kaputt machen lassen – ihre Verteidung lohnt

Gelbwesten-Proteste 2019 in Frankreich. „Einreißen der Themenparks zwischen dem inneren Kreis und der Peripherie“
FOTO: ALAIN JOCARD/AFP VIA GETTY IMAGES

Ob die Bewegung „Aufstehen“ vor einigen Jahren, die Proteste der Gelbwesten in Frankreich, die Demonstrationen der Trucker in Kanada oder die Traktorenkolonnen wütender Bauern in den Niederlanden und Deutschland – all diese Bewegungen stießen auf eine im Großen und Ganzen sehr ähnliche Zurückweisung im Milieu der gewandelten, identitätspolitischen Linken sowie bei den progressiven Bürgerlichen, die für sich selbst meist die Bezeichnung „links“ ablehnen würden.

Das führt zu der Frage, was beide Milieus eigentlich trennt. Mit vielen kleinen stilistischen Codes und in ihrem Wahlverhalten unterscheiden sich Redakteure linker Medien von ihren Kollegen in neubürgerlichen Blättern und Plattformen, Mitarbeiter linker Organisationen von denen der Mitte, und erst recht jüngere Parteifunktionäre der Linken von Kollegen der weniger linken Konkurrenz. Aber jenseits der Tagespolitik finden sich weder in ihrem Lebensstil noch ihrer Wahrnehmungswelt große Differenzen. Erst recht keine harten Grenzen.

Ihre Biografien ähneln einander. Die meisten stammen aus einem gutsituierten Angestelltenmilieu, jedenfalls kaum aus dem sozialen Unterbau der Gesellschaft. Sie absolvierten fast durchweg ähnliche geisteswissenschaftliche Studiengänge, leben in den gleichen zentralen Stadtvierteln, bringen ihre Kinder bevorzugt auf den gleichen privaten Schulen oder wenigstens in guten staatlichen Gymnasien unter und kaufen in den gleichen gehobenen Supermärkten. Sie benutzen die gleichen Debattenbegriffe, konsumieren die gleichen Leitmedien und treffen sich auf den gleichen Debattenpodien. Sie leben im Zentrum der Städte, und sie besetzen das imaginäre Zentrum der Sinnproduktion.

Dieses Zentrum definiert sich nicht nur durch seine Bewohner, sondern auch durch eine unausgesprochene Übereinkunft, wer und was dort keinen Platz finden soll. Der Gegensatz zwischen innen und moralisch oben auf der einen und unten und draußen auf der anderen Seite gliedert heute fast alle westlichen Länder. In kaum einem Land funktioniert das Abdrängen sämtlicher Konflikte an die Peripherie allerdings so reibungsfrei wie in Deutschland (was möglicherweise an der generellen deutschen Tendenz liegt, Zeitströmungen zu perfektionieren). Nicht nur die meisten Asylbewerberheime befinden sich in Außenbezirken und in Kleinstädten. Die im inneren Milieu zur Fortbewegung empfohlenen Schienennetze, d

Dieser Artikel ist erschienen in...