Können Freunde die Familie ersetzen?

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WAHLVERWANDTSCHAFTEN

Für die meisten Menschen ist die eigene Familie besonders wichtig. Doch rund jeder Zehnte fühlt sich mit Freundinnen und Freunden enger verbunden: Sie können zur Wahlfamilie werden.

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Wenn in Paulas Leben etwas schiefgeht, ruft sie ihre engsten Freunde an. Auch wenn sie vor einer schwierigen Entscheidung steht, wendet sich die 28-Jährige nicht an ihre Eltern oder Großeltern. Ihre wichtigsten Bezugspersonen sind ihre engsten Freundinnen und Freunde. Paula bezeichnet sie als Familie. »Alles, was man normalerweise mit Familienangehörigen bespricht, bespreche ich mit ihnen«, sagt sie. »Wenn ich erfahren würde, dass ich schwanger bin, würde ich nicht meine Mutter anrufen, sondern sie.«

Können Freunde zur Familie werden? Es gibt Fachleute, die diese Frage unwissenschaftlich finden – so unwissenschaftlich, dass sie zu dem Thema nicht einmal zitiert werden wollen. Die beiden Beziehungen seien grundverschieden, sagt zum Beispiel ein Psychologieprofessor. Man könne Freunde bestenfalls metaphorisch als Familie ansehen.

In der Forschung gilt die Freiwilligkeit einer Beziehung als wichtiges Unterscheidungsmerkmal: Im Gegensatz zur Familie werden Freundschaften aus freien Stücken geschlossen und beruhen nicht auf Blutsverwandtschaft oder rechtlichen Vereinbarungen wie Heirat oder Adoption. Aus der psychologischen Forschung weiß man außerdem, dass vor allem die frühen Erfahrungen in der Familie die mentale Gesundheit und spätere Bindungen prägen können.

Paula hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihrer Familie. »Für mich war immer klar, dass ich dort nicht hingehöre«, erinnert sie sich. Zu ihrem Vater hat sie bis heute keinen Kontakt. Auch das Verhältnis zur Mutter ist schwierig. Ihre Mutter arbeitete viel und ließ sich früh scheiden, was den konservativen Großeltern gar nicht gefiel. Die Großmutter wollte sich daraufhin auch nicht um die Enkelin kümmern. Als Kind verbrachte Paula deshalb viel Zeit allein – oder bei einer Freundin ihrer Mutter. »Eigentlich war auch sie schon Familienersatz«, sagt die Doktorandin heute.

Paula heißt eigentlich anders. Unter ihrem echten Namen möchte sie hier nicht genannt werden. Denn so schwierig das Verhältnis zu ihrer Mutter auch ist – ganz zerstören will sie es nicht. Über deren Freundinnen lernte Paula später jenen Freundeskreis kennen, den sie heute als ihre Familie bezeichnet: acht Personen in ihrem Alter, die meisten von ihnen wohnen heute viele Kilometer weit von ihr entfernt. Die emotionale Nähe zu ihnen entstand in einer Zeit großer Einsamkeit, erzählt Paula. In diesem Kreis fühlte sie sich zum ersten Mal so angenommen, wie sie ist.

Dass Freundschaften die fehlende Nähe zur biologischen Familie zumindest in Teilen aufwiegen können, zeigt auch die psychologische Forschung. In einer

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