KLEINE GESCHICHTE EINER FRAU, DIE  ALS ERSTE DIE WELT UMRADELTE

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HEMMER UND MESSNER ERZÄHLEN

Ein Fahrrad als Katalysator für die Emanzipation? Ganz genau. Denn Radfahren macht nicht nur fit, sondern ist auch befreiend, wie die kuriose Weltumradelung der Annie Londonderry 1894/95 zeigt.

Richard Hemmer ist Historiker und Podcaster. Er lebt in Wien. Daniel Meßner ist Historiker und Podcaster in Regensburg.
MIT FRDL. GEN. VON PETER ZHEUTLIN

Fortbewegungsmittel haben es an sich, dass sie nicht nur Menschen von A nach B befördern, sondern auch Entwicklungen beschleunigen. Das gilt für das Schiff, den Zug und das Auto. Doch auch der Drahtesel hat revolutionäres Potenzial, wie die Geschichte der Annie Londonderry(1870/71–1947) belegt. Sie machte sich einen – neuen – Namen, indem sie als erste Frau zwischen 1894 und 1895 auf dem Fahrrad die Welt umrundete. Frauen mussten damals eigentlich keine spektakulären Taten vollbringen, um auf dem Zweirad für Aufsehen zu sorgen. Es reichte schon, wenn sie damit herumfuhren. Aber alles der Reihe nach. Zunächst einmal zum Drahtesel selbst.

Die Welt im Fahrradfieber In den USA waren die 1890er Jahre die Zeit des »bicycle craze«. Allein 1897 wurden über zwei Millionen Räder verkauft, große Fahrradausstellungen fanden statt und Radklubs wurden gegründet. Das Vehikel gab es noch nicht lange und hatte auch noch keinen festen Platz in der Gesellschaft. Doch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wollten die Menschen zeiteffizienter und schneller vorankommen. Und der etwas angestaubte, dem Lateinischen entnommene Begriff »Veloziped« verrät bereits, wie man unterwegs sein wollte: »schnellen Fußes«, aber nicht wie bisher auf Schusters Rappen.

Ab 1870 sattelten Radfahrer dann immer mehr vom Drei- oder Vierrad auf den Akt des Balancierens um: zunächst auf Hochräder, die auch »Ordinary« genannt wurden, anschließend auf ein Modell namens »Safety« – das Sicherheitsniederrad, das mehr den heutigen Fahrrädern ähnelte. Bei »Safety« waren nun beide Räder gleich groß. Das verlieh dem Radler mehr Stabilität, und es ließ sich schneller vorankommen.

Auf dem Drahtesel in die Freiheit

Bei Traditionshütern sorgen neue Technologien oft für wenig Begeisterung. Wie war das noch mit dem Augenlicht ruinierenden Lesen von Romanliteratur? Oder den flimmernden Bildern des Fernsehens? Im 19. Jahrhundert schien der Hype ums Rad das Ende einer alten Ordnung einzuläuten: Denn Frauen arbeiteten mehr und mehr außer Haus, engagierten sich politisch und fuhren nicht selten – genau! – Fahrrad.

Die neuen Möglichkeiten, die eine persönliche Mobilität bot, widersprachen vielem, wofür das 19. Jahrhundert stand. Unbeaufsichtigt und hoch zu Rad die Nachbarschaft zu erkunden, dabei vielleicht sogar die Knöchel zu entblößen – für eine Frau unerhört! Doch die Radlerinnen brauchten Beinf

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