Von Natur aus selbstlos?

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Ob Terroranschläge, Hungersnot oder Wassermangel: Ausgerechnet bei tödlicher Gefahr verhalten sich Menschen oft erstaunlich uneigennützig. Woran liegt das?

UNSER AUTOR

Guillaume Dezecache lehrt als Dozent für Psychologie an der Université Clermont-Auvergne und ist Mitglied der Forschungskooperation Laboratoire de Psychologie Sociale de la Cognition (LAPSCO). Seine Arbeit wurde mit dem französischen Prix Théodule Ribot des Comité National Français de Psychologie Scientifique – CNFPS ausgezeichnet.

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Auf einen Blick: Wie wir uns bei Katastrophen verhalten

1Laut früheren Annahmen neigen große Gruppen bei Todesgefahr zu Massenpanik, in der Menschen egoistisch agieren.

Das ist jedoch nicht die Regel.

2 Die Befragungen von Überlebenden nach großen Attentaten (New York, London, Paris) zeigen vielmehr, dass in einer verzweifelten Lage überlegtes, gemeinschaftliches Handeln und gegenseitige Hilfe vorherrschen.

3 Wie wahrscheinlich derart unterstützendes Verhalten war, hing dabei von verschiedenen Faktoren ab. Ihr Verständnis könnte helfen, künftige Krisensituationen besser zu meistern.

Wir schreiben den 14. Juli 2043. Frankreich erlebt die schlimmste Dürre seit zehn Jahren. Alle Vorschriften und Gesetze zur Begrenzung des Wasserverbrauchs blieben wirkungslos, deshalb musste man das Leitungswasser in der ganzen Region Île-de-France abstellen. Stattdessen rollen Tanklastwagen durch Paris. Straße für Straße, Viertel für Viertel werden die Menschen zu den Fahrzeugen gerufen, um sich für die kommende Woche ihre Wasserration abzuholen. Eile ist geboten, manche haben mehrere Kanister dabei. Obwohl jeder Haushalt bloß Anspruch auf fünf bis sechs Liter hat, sind die für die Verteilung zuständigen Personen mit der Ausweiskontrolle schnell überfordert. Es dauert nicht lange, bis hitzige Streitereien entbrennen und jeder versucht, sich unsanft vorzudrängeln.

Ein überzeichnetes Katastrophenszenario? Vor dem Hintergrund des Klimawandels könnten derart dystopische Zustände schon bald vielerorts Realität werden. Für die Bewohner der Insel Mayotte, eines französischen Überseegebiets, wurden sie bereits im Jahr 2023 wahr. Auf Grund schwer wiegender Niederschlagsanomalien während der Spätsommer- und Herbstmonate musste die Regierung Lieferrunden zur Versorgung mit Wasser einrichten. Die Menschen konnten ihre Vorräte nur jeden dritten Tag auffüllen. Schließlich übernahm das Militär die Aufgabe, die Bevölkerung, die zudem unter Armut und grassierender Kriminalität leidet, mit Wasser zu versorgen.

Um zu überleben, mussten unsere Vorfahren zweifellos oft an sich selbst denken. Ist es nicht zu befürchten, dass wir die Nachkommen von Individuen sind, die sich angesichts des sozialen Dilemmas »Zuerst ich oder andere vorlassen?

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