Warum Menschen sich selbst verletzen

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Der Mensch fügt sich seit Jahrtausenden selbst Wunden zu – ob aus emotionaler Not oder religiösen Gründen. Älteste Spuren führen bis in die Steinzeit.

JACQUES HUGO / GETTY IMAGES / ISTOCK

Am Fuße der Pyrenäen liegt das verschlafene französische Dorf Aventignan. Südlich davon erhebt sich ein kleiner Hügel, in dem sich die Höhle von Gargas verbirgt. Tief in deren Innerem finden sich hunderte Handabdrücke, die um die 20 000 Jahre alt sind. Dabei fällt ein Detail besonders auf: Etwa der Hälfte der Abdrücke fehlt mindestens ein Fingerglied. Weshalb? Ein Forschungsteam um den kanadischen Archäologen Mark Collard ist davon überzeugt, dass die Steinzeitmenschen sich die Segmente absichtlich abgetrennt haben. Sollte es damit richtigliegen, handelt es sich bei den Bildern um eines der frühesten Zeugnisse von Selbstverstümmelung der Menschheitsgeschichte.

Psychologinnen und Psychiater sprechen heute von »selbstverletzendem Verhalten«, wenn jemand den eigenen Körper bewusst versehrt. Je nach Definition beginnt das schon recht harmlos: etwa beim obsessiven Nägelabkauen bis herunter zum Nagelbett. Piercings oder Tattoos, die sich unter dem breiteren Begriff »Körpermodifikation« fassen lassen, wurden in der Vergangenheit ebenso dazugezählt wie das weit brachialere Abtrennen von Gliedmaßen, die Selbstauspeitschung oder das heutzutage recht verbreitete Ritzen (siehe »Wenn Schmerz entlastet«). Insbesondere diese schwereren Formen der Selbstverletzung scheinen zunächst unverständlich: Wieso fügen sich Menschen freiwillig starke Schmerzen zu, beeinträchtigen den Körper in seiner Funktion und nehmen in Kauf, von der ästhetischen Norm abzuweichen?

Collard und seine Kollegen halten im Fall von Gargas medizinische Gründe wie das Entfernen von erfrorenem Gewebe für unwahrscheinlich – zu selten sei dafür der Daumen verkürzt, zu groß die Menge an abgetrennten Gliedern. Für realistischer halten die Forscher einen rituellen Hintergrund. Diese Ansicht stützen sie auf interkulturelle Untersuchungen: In mehr als 100 ethnologischen Berichten über Stämme und Gesellschaften sämtlicher Kon

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