Was Murrinhpatha über das Denken verrät

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Mit ihrer ungewöhnlichen Grammatik erlaubt eine kleine australische Sprache den Blick auf die Denkprozesse beim Sprechen – und vermittelt eine Ahnung davon, was die Welt verliert, wenn Sprachen aussterben.

Christine Kenneally schreibt für »Scientific American«.
RAUCHZEREMONIE Die Kleidung eines Verstorbenen wird rituell verbrannt, um seinen Geist zu befreien. Dabei wird getanzt, Musik gemacht und ein Festmahl abgehalten.
DAVID MAURICE SMITH

Anfang des 20. Jahrhunderts gelang dem Sprachwissenschaftler Benjamin Lee Whorf eine verblüffende Beobachtung – so dachte er jedenfalls: In der Sprache der nordamerikanischen Hopi gebe es keinerlei Wörter oder grammatikalische Formen, mit denen sich Zeitbezüge ausdrücken lassen. Den Hopi, die im heutigen US-Bundesstaat Arizona leben, fehle es infolgedessen auch an einem grundlegenden Verständnis von Zeit. Zumindest würden sie das Vergehen der Zeit gänzlich anders erleben als etwa Sprecher des Englischen oder Deutschen.

Whorfs Veröffentlichung elektrisierte seine Leserschaft. War es möglich, dass es mehr als nur den einen richtigen Blick auf die Welt gibt? Dass die Art, wie Menschen in der modernen westlichen Kultur die Welt sehen, das Ergebnis jahrhundertelanger Beeinflussung durch die eigene sprachliche Historie war – mitsamt den wissenschaftlichen Konzepten, die darauf fußten? Für die damalige Zeit war das ein herausfordernder, fast schon revolutionärer Gedanke.

Später zeigte sich, dass die Hopi sehr wohl Zeitbezüge ausdrücken können, sogar auf sehr komplexe Art und Weise, und wie alle Menschen hervorragend über die Zeit und ihr Vergehen nachdenken können. Nach und nach fiel Whorfs These in sich zusammen. In der modernen Linguistik einigte man sich darauf, dass zwei Sprachen zwar grundlegend anders funktionieren mögen, ihre Sprecher und Sprecherinnen die Umwelt jedoch im Wesentlichen gleich wahrnehmen.

Aber das war eventuell vorschnell geurteilt. Wer ins 2500-Seelen-Städtchen Wadeye an der Nordwestküste Australiens reist, bekommt vielleicht eine Ahnung davon, dass das Verhältnis von Sprache und Denken komplizierter sein könnte als zwischenzeitlich geglaubt. Fast alle indigenen Einwohner Wadeyes sprechen hier noch Murrinhpatha, eine Sprache, die ganz anders funktioniert, als man es etwa von europäischen Idiomen her kennt. Si

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