FLUG IN DIE HÖLLE VON TSCHERNOBYL

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RD-KLASSIKER MAI 1991

ANATOLI GRISCHTSCHENKO HILFT, DAS ATOMARE FEUER ZU ERSTICKEN. ER ZAHLT EINEN HOHEN PREIS

FOTO: © GAMMA-RAPHO/GETTY IMAGES

Am 10. Mai 1986 klingelte das Telefon Anatoli Grischtschenko, einen Testpiloten der ersten sowjetischen Garnitur, aus tiefem Schlaf. Er nahm den Hörer ab und erkannte sofort die Stimme seines Chefs. Der mitternächtliche Anruf war höchst ungewöhnlich, zumal Anatoli Urlaub hatte.

Der Chef erklärte Anatoli, der mit seiner Frau Galina ein paar Tage in einem Kurort ausspannen wollte, er müsse seine Pläne ändern. Er solle zu einem Sondereinsatz. Sein Auftrag laute, nach Kiew zu fliegen und sich in Tschernobyl, 100 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt, bei den Rettungsmannschaften zu melden.

Anatoli wusste genau, wozu man ihn so dringend beim Atomkraftwerk Tschernobyl brauchte. Zwei Wochen zuvor, am 26. April, hatte sich am Reaktor vier eine Serie von Irrtümern und Fehleinschätzungen zum nuklearen Alptraum gesteigert : Kernschmelze.

Explosionen einer unkontrollierten nuklearen Reaktion sprengten eine Abdeckplatte aus 4000 Tonnen Stahlbeton, wobei Temperaturen von über 2000 Grad entstanden. Ohne die bei westlichen Atomanlagen übliche Sicherheitshülle jagten nuklearer Brennstoff und radioaktiver Schutt hoch und regneten wie Bombensplitter auf die Umgebung.

Den radioaktiven Partikeln, die wie eine Vulkanwolke fast 2000 Meter in die Luft geschleudert wurden, folgten Gase aus der geschmolzenen Kernmasse.

In knapp einer Woche hatten Staub und Gase sich über fast ganz Europa verteilt. Tschernobyl war der schwerste Atomunfall in der Menschheitsgeschichte.

Das Läuten hatte auch Anatolis Frau Galina geweckt. „Was gibt’s, Tolja?“, fragte sie, erschrocken über den Teil des Gesprächs, den sie mitbekommen hatte. Anatoli erzählte zu Hause nie etwas von seiner Fliegerei, weil er wusste, wie sehr Galina sich um ihn sorgte. Jetzt aber konnte er nicht umhin, es ihr zu sagen: „Ich muss nach Tschernobyl.“ „Geh nicht, Tolja, bitte“, flehte sie. Anatoli wusste, welche Gefahr ihn in Tschernobyl erwartete. Aber der Gedanke, sich um einen gefährlichen Einsatz zu drücken, war ihm fremd. Er setzte sich neben Galina, mit der er seit 23 Jahren verheiratet war, und ergriff ihre Hand. „Wenn ich nicht fliege“, sagte er, „muss ein anderer hin.“

Am späten Vormittag bestieg Anatoli eine Maschine nach Kiew. Mit ihm flog sein bester Freund, Gourgen Karapetian, ebenfalls Hubschraubertestpilot, den auch ein mitternächtlicher Anruf erreicht hatte.

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