Wenn Kinder Eltern verlassen

12 min lesen

Brechen erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern ab, schmerzt das beide Seiten. Warum sich der Autor Martin W. Angler dennoch für diesen Schritt entschied

Illustrationen: Jan Feindt

Einen Augenblick lang hielt meine Mutter inne, als sie mir die Tür öffnete. Ich sagte: „Hallo Mama.“ Sie erwiderte: „Du siehst aus wie ein Penner mit diesen langen Haaren.“ Meine Umarmung erwiderte sie mit halber Kraft und bat mich rein. „Ich freu mich auch, dich zu sehen“, sagte ich und trat ein. Auch ich war überrascht über ihr Erscheinungsbild, behielt das aber für mich. Sie war immer klein und zierlich gewesen, doch diesmal wirkte sie fahl und blass. War es der Frust darüber, dass wir uns jahrelang nicht gesehen hatten?

In den Tagen davor hatte es vieler Telefonate bedurft, bis sie einem Besuch zustimmte. Ich rief sie vom Auto aus an und sagte, ich sei unterwegs. „Martin, nein, lass gut sein. Das hat doch keinen Sinn“, sagte sie. Das Nein ließ ich nicht gelten. „Mama, es ist Heiligabend, ich schau heute vorbei.“ Als ich eintrat, bedankte sie sich kurz für die mitgebrachten Weihnachtsgeschenke und legte sie beiseite. Unser Gespräch verlief kühl, irgendwann flammten die alten Vorwürfe wieder auf, ich käme ja nie zu Besuch. Nach einer Stunde ging ich. Dass wir uns so nie wiedersehen würden, ahnten wir beide nicht.

Zwölf Jahre zuvor war ich mit 25 aus der Wohnung meiner Mutter ausgezogen. Ein befreundeter Spediteur hatte mich samt Bett, Schreibtisch und Computer ins 25 Kilometer entfernte Bozen gebracht, in meine erste eigene Wohnung. Die Hauruckaktion dauerte nur einen Tag. Bei der letzten Fuhre stand meine Mutter in der Tür und weinte. Später sagte sie mir: „Du bist ja richtig geflüchtet von hier. Vor mir.“ Damit hatte sie nicht Unrecht. Ich hatte lange auf diesen Moment hingearbeitet, mein Studium in Windeseile abgeschlossen und mir meinen ersten richtigen Job als Lehrer besorgt.

Mein Plan war allmählich und unbewusst gewachsen, weil ich zu Hause erstickte. Als Teenager durfte ich weder selbst entscheiden, was ich anzog, noch allzu häufig bei Freunden sein. Ausgehen? Verboten. Ein Poster in meinem Zimmer aufhängen oder gar die Tür abschließen? Verboten. Das zog sich bis in die Studienzeit. Als ich mit 22 Jahren von einem eintägigen Bergausflug mit Freunden nach Hause kam, musste ich mir anhören, was mir einfalle, meine Mutter so lange allein zu lassen. Solche Erlebnisse erodierten meine Gefühle zu ihr immer mehr. Zum Kontaktabbruch kam es aber erst Jahre später.

Die Vergleiche müssen aufhören

Entfremdungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern sind häufiger, als ich gedacht hatte. Eine soziologische Studie der Universitäten Ohio und Alabama zeigt, dass bis zu einem Viertel der Eltern keinen Kontakt mehr zu einem ihrer Kinder haben. Meistens brechen die Kinder den Kontakt ab,

Dieser Artikel ist erschienen in...

Ähnliche Artikel

Ähnliche Artikel