Im Erzählen finde ich mich selbst

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Die Hochs und Tiefs in unserer Vergangenheit durchzieht ein roter Faden – unser psychologisches Narrativ. Beschäftigen wir uns mit unserer Lebensgeschichte, erfahren wir mehr über unsere Persönlichkeit – und gehen gestärkt hervor

Illustrationen: Elke Ehninger
Und manchmal fühle ich für einen beglückenden Moment während des Erzählens oder auf einem meiner Wege, dass ich doch ein Ganzes bin

In einem unbedachten Moment habe ich zugestimmt, darüber zu schreiben, welche Kraft entsteht, wenn man sein Leben erzählt, und wie man dadurch erkennt, wer man ist. Und nun befinde ich mich in einer misslichen Lage. Zuerst kam mir die Sache noch ganz harmlos vor. Unbedarft notierte ich in der morgendlichen Dunkelheit meines Arbeitszimmers: „Ich bin Psychotherapeutin, Gutachterin und Autorin.“ Ich starrte auf den Satz, meine Hand schwebte über der Tastatur. Also, was soll das denn jetzt bitte? Ich bin geneigt, meine eigenen Hände missbilligend anzusprechen – die haben das schließlich geschrieben. Das ist ganz bestimmt nicht, was du bist. Das ist, was du geleistet hast. Mein Auto, mein Haus, meine Jacht.

Karoline war stets bemüht und das ist das Ergebnis ihrer Bemühungen. Halte ich mich daran fest? An meiner Leistung, an den Erfolgen?

Ich lehnte mich zurück. Sind nicht auch all die Menschen in meinem Leben ein Teil von mir? Bin ich nicht Ehefrau, Mutter, Schwester, Tochter, Freundin, Kollegin? Bin ich nicht gewachsen aus tausenden Gesprächen? Aus so vielen Blicken, Berührungen, Sätzen? Und bin ich nicht auch die Gedichte und Geschichten, die ich gelesen, die Musik, die ich gehört habe? Wer wäre ich ohne die Essais von Michel de Montaigne, wer ohne den Trost der Musik von Johann Sebastian Bach? Ohne die großen Erzählungen Dostojewskis, Tolstois und meines geliebten Mark Twains? Wer ohne, wer ohne? Und bin ich nicht ebenso durch das Unterlassene bestimmt? Bin ich nicht auch die, die ein Japanologiestudium genauso vor der Zeit abbrach wie eine Reihe von Beziehungen? Die nie in einer anderen Stadt lebte, keine Geduld hat und nie etwas langsam und bedächtig tut?

Ich schreibe und die Zeilen auf dem Bildschirm verknoten sich ineinander zu einem unentwirrbaren Knäuel. Je mehr ich versuche, meine Geschichte zu erfassen, umso mehr entgleitet sie mir. In der Erzählung über mich selbst kämpfe ich wie Herakles mit der Hydra. Man beachte die Metapher aus dem k lassischen Bildungskanon. Wann immer ein Fragenkopf fällt, wachsen zwei neue nach. Die Psychologie soll mich retten. Mal wieder. Schließlich hat man doch nicht umsonst studiert. „Die narrative Psychologie vertritt die Auffassung, dass Erzählungen grundlegend für die menschliche Erfahrungsorganisation sind. Die Konstruktion einer stimmigen Lebensgeschichte aus der eigenen Biografie hilft dabei, Identität zu bilden sowie Selbsterkenntnis und Orientierun

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