Die ungelebte Seite

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Bei der Psychotherapeutin macht sich in der fünften Sitzung eine gewisse Müdigkeit breit. Wie gelingt es, miteinander ins Gespräch zu kommen über das, was Jenny in der Tiefe bewegt?

Illustration: Michel Streich

Ich habe eine Affäre, platzt Jenny heraus, kaum dass wir sitzen. Es ist unsere fünfte Sitzung. Jenny kam zu mir, weil sie seit Monaten kaum noch schläft und ständig angespannt ist. Sie ist Anfang vierzig, hat zwei Töchter und die Aufgaben des Familienalltags teilt sie sich mit ihrem Mann, so dass sie eine eigene beruf liche Karriere hatte auf bauen können. In den Stunden zuvor erzählte sie mir von Familienurlauben, Freunden und dem Stress auf der Arbeit.

Mir war aufgefallen, dass sich in mir recht schnell eine Müdigkeit eingestellt hatte. Ich bekam keinen emotionalen Kontakt zu Jenny, und ihre Erzählungen blieben irgendwie belanglos. Diese Art der Gegenübertragung ist mir über die Jahre meiner psychotherapeutischen Arbeit vertraut geworden und inzwischen weiß ich, dass sie vor allem dann auftritt, wenn Patientinnen oder Patienten etwas Bedeutsames zu verheimlichen versuchen.

Dahinter liegen in der Regel enorm scham- oder schuldbehaftete Themen, und die Patientinnen und Patienten haben Angst, verurteilt zu werden. Und auch davor, dass das eigene Selbstbild beschädigt werden könnte. Manche Patienten und Patientinnen glauben zudem, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten moralische Wächter seien. Das Prinzip der technischen Neutralität – ein wesentlicher Aspekt der psychoanalytischen Grundhaltung – ist ihnen nicht vertraut. Als Analytikerin vertrete ich die Auffassung, dass alles Seelische eine Bedeutung hat. Deshalb interessiert mich der subjektive Sinn, die seelische Logik, die einer Dynamik zugrunde liegt. Um Fragen der (moralischen) Richtigkeit oder um gesellschaftliche Ansprüche und Normen geht es dabei kaum. Ich persönlich erlebe dies als entlastend. Ich muss nichts entscheiden oder bewerten und darf einfach neugierig auf den Menschen sein, der mir gegenüber sitzt beziehungsweise auf meiner Couch liegt.

Und auch Jenny wirkt froh darüber, endlich mit jemandem offen sprechen zu können. Bereits seit zwei Jahren gibt es diese Nebenbeziehung, und für Jenny ist sie inzwischen wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Angefangen habe alles, als sie mit dem Segeln begonnen habe. Direkt am ersten Tag des Segelkurses sei ihr Isabell aufgefallen. Die Frauen freundeten sich schnell an, teilten sich ein Boot, lernten zusammen für die Prüfung. Jenny erzählt, wie nah und vertraut es sich mit Isabell anfühlt, wie ihr Augenkontakt sie auf einer tiefen Ebene berührt habe. „Wie ein stilles Erkennen“, sinniert Jenny. Was sie denn erkannt habe, frage ich nach. „Ich glaube, ich bin mir darin selbst begegnet. Einer Seite in mir, die so noch nie gelebt wurde“, antwortet Jenny nach einer Pause. Bis sie Isabell getr

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