Unser taktiler Trafo

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Unzählige Male fassen wir uns täglich mit den Fingern ins Gesicht – gänzlich unwillkürlich und unbewusst. Warum tun wir das?

Illustrationen: Frederik Jurk

Joe Biden macht es. Ausgiebig. Angela Merkel hat es oft getan. Olaf Scholz sowieso. Aber auch ein Fußballfan kann nicht anders, wenn seine Mannschaft gerade übel verschossen hat. Und auch Sie kommen nicht darum herum, und das ziemlich häufig – wenn Sie etwa aufgeregt sind oder eine schlechte Nachricht bekommen haben. Die Rede ist von der „spontanen Selbstberührung im Gesicht“, wie es etwas umständlich und trocken heißt. Dabei handelt es sich um einen Akt, der viel mit überschießenden Gefühlen und emotionaler Anspannung zu tun hat: Ohne dass es uns bewusst ist, fassen wir uns zwischen erstaunlichen 400 und 800 Mal pro Tag ins Gesicht. Kürzer, länger. Ans Kinn, an die Stirn, an die Nase. Mit einem Finger, manchmal sogar mit zehn. Immer dann, wenn wir unausgeglichen und gestresst sind oder eine Störung in unserem Alltag erfahren.

Dem Psychologen und Haptikforscher Professor Dr. Martin Grunwald von der Universität Leipzig war das Phänomen vor gut 30 Jahren bei seinem Kurs zu konf liktreicher Gesprächsführung aufgefallen. Dem Wissenschaftler, der mit seiner Forschung grundsätzlich eine Lanze brechen möchte für unseren Tastsinn, den er für den evolutionär wichtigsten, aber auch den am meisten unterschätzten hält, war damals etwas Ungewöhnliches aufgefallen: Je angespannter die Diskussion geriet, desto mehr neigten die Teilnehmenden zu starken Körperbewegungen – aber eben auch zu Berührungen im Gesicht.

Grunwald war fasziniert von der Beobachtung und beschloss, ihr auf den Grund zu gehen: „Es hat mehrere Jahre gedauert, bis wir ein experimentelles Setting gefunden hatten. Denn es ist leider extrem aufwendig und kompliziert, Verhalten zu untersuchen, das nur spontan auftritt. Man kann die Probandinnen und Probanden ja schlecht dazu auffordern.“ Doch nach mühevoller, minutiöser Forschung war klar: „Die Selbstberührungen dienen mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Erhalt des psychischen Gleichgewichts. Sie sind bei Irritationen enorm wichtig für einen neuronalen Regulationsprozess.“ In einem Versuch etwa sollten sich Testpersonen bestimmte Fakten einprägen, um diese dann eine Viertelstunde später wiederzugeben. In dieser 15-minütigen Wartezeit aber wurden die Probanden akustischen Reizen ausgesetzt: klapperndem Geschirr, schrillem Pfeifen. Der Hintergrund: Im Unterschied zu visuellen Signalen kann der Mensch Geräusche nicht ausblenden.

Während wir durch den Tag hecheln

Was aber passierte aufgrund dieser Störk länge? Die spontanen Selbstberührungen nahmen überproportional stark zu. Für Grunwald und sein Team der Hinweis darauf, dass diese Berührungen dazu dienen, in stressigen Situationen gegenzusteuern. „Das Problem ist, dass uns

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