EINSAME KLASSE

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Der High Scardus Trail entführt in die wilde Bergwelt des Westbalkans. Wandernde erleben auf ihm Stille – und große Gastfreundschaft.

TEXT: JAVIER GONZÁLEZ| FOTOS: FRITS MEYST

Im Mai blühen die Blumen auf den saftigen Bergwiesen am High Scardus Trail.

Es schüttet auf der Grenze zwischen Kosovo und Nordmazedonien. So stark, dass meine Regenhose es nicht mehr schafft. Mit jedem Schritt merke ich, wie die Schicht schwächer wird. Plötzlich reißt die Wolkendecke auf, und wir sehen auf einen wuchtigen Kamm, darunter den geheimnisvollen Shutmansee. Ich halte an, atme tief durch. »Man kann hier lange wandern, ohne jemandem zu begegnen«, sagt Nedih Limani, mein Guide auf diesem Abenteuer.

Wir sind auf dem High Scardus Trail unterwegs. 362 Kilometer schlängelt er sich auf alten Hirtenpfaden und Handelswegen Richtung Südosten. Viele hat man erstmals für den Trail markiert, insgesamt kommen 22 Etappen zusammen, Start und Ziel liegen in Nordmazedonien: von Staro Stelo bis nach Sveti Naum am Ohridsee unten im Süden des Landes. Dabei gönnt sich der Trail immer wieder Schwenks hinüber in den Kosovo und später Albanien. Durch fünf Gebirge windet er sich in stetem Auf und Ab: Sharr, Korab, Deshat, Jablanica und Galichica. Über 2700 Meter hohe Gipfel erwarten Wandernde auf ihrem Weg Richtung Südosten, manchmal schreitet man über einsame Hochebenen, die an die Mongolei erinnern.

Nedih und ich haben leider nicht die Zeit, den kompletten Trail zu wandern, deswegen sind wir in Vejce eingestiegen, einem nordmazedonischen Bergdorf westlich von Skopje. Von hier aus wollen wir heute hinauf zur Kobilica-Hütte, dem Startpunkt der sechsten Etappe, und von dort in der nächsten Woche die mächtigen Berge des Westbalkans queren, das Sharr- und das Korab-Gebirge. Immer wieder werden wir dabei auf weglose Abschnitte in der wildalpinen Landschaft stoßen. »Wer sich mit dem GPS-Gerät nicht auskennt, sollte lieber einen Führer nehmen«, sagt Nedih. Und ich merke auf der Tour mit dem konditionsstarken 45-Jährigen schnell: Körperlich fordern die Etappen genauso wie ein Hüttentrek in den Alpen. Wer die volle Distanz geht, sammelt Eindrücke auf 22 000 Höhenmetern.

Nachmittags nähern wir uns der Kobilica-Hütte. »Wir wandern hier durch eins der wahrscheinlich traditionellsten muslimischen Täler des Landes, also erwarte kein Bier«, sagt Nedih. Ich hoffe, er irrt sich. Zum Abendessen gibt es leckere Flija, eine mehrschichtige Pfannkuchentorte, Schafsjoghurt und den frischesten Käse, den ich je gekostet habe.

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