DER SCHATTEN DES ZAREN

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Heiliger oder Dämon? Sein Erfolg bei der Heilung des Thronfolgers verlieh ihm enorme Macht über die Mutter des Jungen, Zarin Alexandra. Doch vielen Menschen war der mysteriöse Einfluss des Predigers auf die Herrscherfamilie suspekt – ein Motiv für Rasputins Ermordung.

JOSEP MARIA CASALS HISTORIKER

DER BAUER UND DIE MACHT
Das Foto, aufgenommen um 1912, zeigt Rasputin, wie er mit durchdringendem Blick den Segen erteilt. Linke Seite: Detail eines Schminktischkastens der Zarin. Die Porträts von Zar Nikolaus II. und Zarin Alexandra sind mit Diamanten besetzt.
LINKS: LEBRECHT / ALBUM RECHTS: BRIDGEMAN / ACI

Heu, Brennholz, Wodka, Pferde: Die Liste der vermeintlichen Diebesgüter des Grigori Jefimowitsch Rasputin ist lang. Nachbarn ertappten den Bauersjungen angeblich sogar dabei, als er den kompletten Holzzaun um einen Heuschober stehlen wollte. Viele Erinnerungen zeichnen den später so berühmten Wunderheiler und Wanderprediger als lasterhaften jungen Mann. Doch echte Belege für grobe Verfehlungen aus seinen ersten 30 Lebensjahren als Kleinbauer existieren nicht. Die meisten Geschichten über den verdorbenen Charakter des später am Zarenhof so einflussreichen Mannes sind schlicht erfunden, Teil der Legendenbildung seiner Feinde, die ihn als früh schon sexbessenes Monster dämonisieren wollten.

Es gibt lediglich einen Polizeibericht aus der westsibirischen Stadt Tjumen aus dem Jahr 1909, in dem Bewohner aus dem nahen Pokrowskoje Rasputin als Menschen beschreiben, der sich „gern betrank“ und gelegentlich „kleine Diebstähle“ beging. Bis er mit knapp 30 Jahren verschwand und als veränderter Mensch zurückkehrte.

Geboren am 21. Januar 1869 in Pokrowskoje, wuchs Rasputin als Sohn des Kleinbauern Jefim Jakowitsch in diesem ärmlichen Dorf in Westsibirien am Rand des Ural auf, mehr als 2000 Kilometer entfernt von St. Petersburg, der damaligen Hauptstadt Russlands. Seine Jugend glich der vieler Zeitgenossen, das Leben auf dem Land war einfach und hart. Die innere Wandlung, die der Bericht aus Tjumen vermerkt hatte, scheint es tatsächlich gegeben zu haben. Als Rasputin nämlich 1897 von einer dreimonatigen Pilgerreise zum Kloster des Heiligen Nikolaus von Werchoturje zurückkehrte, veränderte sich sein Leben. Zurück im Dorf, feierte er regelmäßig Gottesdienste und richtete dafür in seinem Haus sogar einen eigenen Andachtsraum ein. Offenbar hielt er dort gemeinsam mit Anhängern jedoch Rituale ab, die sich vom klassischen Gottesdienst der russisch-orthodoxen Kirche unterschieden. Er erwarb sich den Ruf, einer umtriebigen Sekte anzugehören, den Chlysten. Es kam zum S


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