DAS LEBEN GEHT WEITER

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Wirtschaftskollaps. Eine verheerende Explosion. Eine Flüchtlingskrise. Politikversagen. Der Libanon stellt den unerschütterlichen Lebensmut seines Volkes auf eine harte Probe.

TEXT RANIA ABOUZEID FOTOS RENA EFFENDI

Frauen besichtigen die Seefestung, die Kreuzritter im 13. Jahrhundert an der Küste von Sidon, der drittgrößten Stadt im Libanon, errichtet haben. Dieses Gebiet ist seit der frühen Bronzezeit besiedelt und war ein wichtiger phönizischer Hafen. Archäologische Stätten finden sich überall an der Küste des Landes.

DER JANUARWIND IST SO SCHNEIDEND wie mein Schmerz. Die matte Wintersonne glitzert auf den schneebedeckten Bergen im Norden des Libanon, in denen der Heimatort meiner Mutter liegt. Das Friedhofstor öffnet sich knarrend, und ich lege das Porträtfoto meiner Mutter zu ihren Vorfahren. Sie ist zu Hause angekommen, zumindest symbolisch, nachdem sie eines Donnerstagmorgens im November unerwartet in Australien gestorben war. Dort hatte sie viele Jahre lang gelebt.

So endete das Leben meiner Mutter dann doch, wie von Anfang an vorgesehen, in einer Heimat, die sie nie wirklich verlassen hatte. Es gibt Teile dieses Landes, die selbst wir in uns tragen, die wir nicht hier geboren sind. Wir tragen sie in unseren Namen, in unserem Essen, in unseren Geschichten und in unseren Familienbanden, die uns über Zeit, Entfernung und Generationen hinweg hierher zurückführen.

Es gibt ein Lied von Fairouz, unserer geliebten nationalen Ikone, eine der berühmtesten arabischen Sängerinnen aller Zeiten. Es gehörte zum Soundtrack meiner Kindheit, die ich in Neuseeland und Australien verbrachte, während der Bürgerkrieg den Libanon von 1975 bis 1990 verwüstete. Ich verstand die Macht der Worte, die meine Eltern zum Weinen brachten, noch bevor ich ihre Bedeutung kannte. In „Nassam Alayna al Hawa“ fleht Fairouz den Wind an, sie nach Hause zu tragen, bevor sie an einem fremden Ort so alt wird, dass ihr Heimatland sie nicht mehr erkennt.

Bei der letzten Reise meiner Mutter in den Libanon im Sommer 2019 war es ihr Heimatland, das kaum noch wiederzuerkennen war. Trostlos, bedrückt, hoffnungslos. Der berühmte unbezwingbare Geist dahingerafft von einem dermaßen ruinösen wirtschaftlichen Kollaps, dass die Weltbank die Krise für eine der weltweit schlimmsten seit Mitte des 19. Jahrhunderts hält.

Der Libanon mit seinen opulenten gemütlichen Mittagessen am Sonntag und den sommerlichen Staus, wenn ganz Beirut vor der brütenden Hitze in die kühlen grünen Berge oder ans Mittelmeer flüchtet – dieser Libanon war zu einem Land mit unterernährten Kindern und



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