Grenzenlose LIEBE

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Till Brönner über sein Leben in einem freien Europa, dem er jetzt ein Fotoprojekt gewidmet hat.

SCHÄFERIN, TOSKANA, ITALIEN, 2017
SELBSTPORTRÄT MIT LEICA M
RHEIN IN DUISBURG BEI THYSSENKRUPP, 2019
MEDITERRANEAN SEA, APULIEN 2018
DANIEL BARENBOIM, BERLIN 2014
HINTER BERLIN, CA. 2010

Unsere Kindheit prägt uns tief. Ein Leben lang steuert sie unser Denken und Empfinden. Und wenngleich nicht wenige Menschen ihre Kindheit mit professioneller Hilfe neu beleuchten oder bewerten, so bleibt sie doch immer schicksalhaft.

Meine Kindheit war eine glückliche, auch objektiv betrachtet. Nein, mehr noch: Sie war ein Traum, der am besten nie zu Ende gegangen wäre. Und um es gleich vorwegzunehmen: Er dauert an.

Meine Eltern, beide Lehrer, hatten nach meiner Geburt im niederrheinischen Viersen die Familie kurzerhand nach Rom verlegt, wo mein Vater ab sofort an der deutschen Schule unterrichtete. Die Siebziger tobten, heftig und lautstark, als ob den Sixties zehn Jahre nicht gereicht hätten. Unser deutscher Freundeskreis rekrutierte sich aus der sogenannten Toskana-Fraktion, einer Handvoll deutscher Pädagogen in karierten Hemden, picknickend und philosophierend auf den ausladenden Grünflächen der Villa Borghese. Man kannte sich und die anderen Landsleute in der Fremde, das Netzwerk funktionierte. Niemand suchte auf dem Wochenmarkt nach deutschem Brot, Fleisch- oder Wurstwaren, wir waren hier freiwillig. Mein Blick aus dem Kinderwagen schweifte ständig über gigantische Fassaden und Wahrzeichen, denen nur die Zeit und keine Bomben zu Leibe gerückt waren.

Meine Sozialisation bestand praktisch aus Gerüchen und Geschmäckern dieser wunderbaren Stadt: Espresso, Pistazieneis, Benzin, Pizza, Lammbraten, winterliche Kastanien auf Holzkohle, gechlorte Toiletten, Mimosen, Weihrauch. Ständig schwarze Talare, mehr Kirchen als Supermärkte, im Radio Raffaella Carrà. Für die Belegschaft eines jeden Restaurants waren Kinder am Tisch das Größte, viva la famiglia. Meine Eltern waren die jeweils jüngsten Kinder ihrer Eltern. Mein Vater mitten im Krieg geboren, den eigenen in Russland verlorenen Papa nur noch in verschwommener Erinnerung. Meine Mutter, Jahrgang 1946, beide aufgewachsen in für meine Generation unvorstellbaren Verhältnissen. Sie haben beide bis heute noch nicht annähernd genug davon preisgegeben, um ihre Lebensleistung begreifen zu können. Doch die Gespräche darüber werden jetzt häufiger. Der Weggang meiner Familie nach Rom trug sicher einen Teilaspekt dessen in sich, was noch immer spürbar und stellvertretend auf den Schultern meiner Eltern lastete. Lange hat es gedauert, bis mir dämmerte, wie privilegiert ich war, ohne Kriegsangst oder Kriegsfolgen leben zu dürfen. Aber plötzlich ist die Angst da, die ich bisher nicht kannte. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ein Krieg au

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