„ Ich brauche keine tiefen Wurzeln, um fest im Leben zu stehen“

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Wer bin ich? Diese Frage stellt sich Sabine Kuegler (51) immer wieder. Ihre Kindheit verbrachte sie im tiefsten Dschungel, bis sie ihren Platz hier, im Westen, suchte. Sie erzählt von ihrem Leben in zwei Welten und wie sie lernte, sich selbst zu erkennen

INTERVIEW SYLVIA NAUSE-MEIER FOTOS ALAMY PR PRIVAT

SABINE KUEGLER

Unser Heft-Thema:

Finde deinen Weg

Sie waren fünf, als Ihre Eltern mit Ihnen ans Ende der Welt gezogen sind: Ihr Vater hatte das Volk der Fayu entdeckt. Fortan lebten Sie im tiefsten Dschungel von Westpapua. Woran erinnern Sie sich besonders gern?

An die Natur. Winzige, weiße Blumen bedeckten das Unterholz. Wunderschöne Farben ruhten wie Morgentau auf allem, was in dieser Welt lebte. Mich faszinierten die Vögel, das Licht. Abends lag ich auf einem Baumstamm und beobachtete, wie die Sonne glühend unterging. Später sah ich in einen Himmel voller Sterne. Es gab kein Gestern und kein Morgen, nur eine nie endende Gegenwart. Wenn du tief im Dschungel bist, spürst du eine ganz, ganz ungewöhnliche Atmosphäre; eine Macht, ja, eine unglaubliche Macht, die weit über das hinausgeht, was wir verstehen.

Was haben Ihnen Ihre Eltern von Deutschland erzählt? Über Traditionen, Feste, das Leben?

Wir haben weder Weihnachten noch Ostern gefeiert. Meine Eltern sagten, das gehöre nicht zum Volk der Fayu, was ja auch stimmt. Mama hat mir von ihren Urlauben erzählt, von Erdbeeren mit Schlagsahne und dem süßen Aroma der Blaubeeren im Sommer, von ihrem Alltag in den 60er-Jahren. Aber mein Bild wurde auch von den Büchern und Zeitschriften geprägt, die ich gelesen habe.

Welche zum Beispiel?

Hanni und Nanni, Asterix und Obelix. Später kam Karl May dazu. So habe ich Deutsch gelernt. Manchmal gelangte auch eine uralte Ausgabe der „Vogue“ zu uns oder „Good Housekeeping“. Die Menschen darin lächelten, trugen schicke, bunte Kleidung. Sie liefen auf Gehwegen und kauften in Geschäften ein. So entstand in meinem Kopf die Fantasiewelt von einem fernen Land.

Wann kam der Zeitpunkt, an dem Sie diese Welt mit eigenen Augen entdecken wollten?

Kurz vor meinem 18. Geburtstag.

Trieb Ihre Neugier Sie an?

Es gab verschiedene Gründe: Mit 18 brauchst du ein eigenes Visum. Ich wollte meine Schule „im Westen“ beenden und anschließend mit einem Studentenvisum an eine Universität in Indonesien zurückkehren. Zudem wurde ich von den Fayu wie ein Junge ausgebildet, was mit meiner Pubertät natürlich Probleme mit sich brachte …