Der verborgene Fluss

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Die Engländerin Pip Stewart reiste durch den dichten Dschungel von Guyana, folgte dem Essequibo von der Quelle bis zur Mündung. Ein Abenteuer, das sie zutiefst verändert hat. Hier erzählt Pip von der Weisheit eines Flusses

TEXT AUFGEZEICHNET UND ZUSAMMENGESTELLT VON SYLVIA NAUSE-MEIER

Guyanas dichterRegenwald
FOTOS MARTIN SKJELDAL JON WILLIAMS PIP STEWART LAURA BINGHAM PETE OXFORD/MINDEN PICTURES PETE OXFORD/NATURE.PL IMAGO CREATIVE DDP ALAMY SHUTTERSTOCK GETTY IMAGES

Das Herz des Dschungels schien sanft zu leuchten. Regen fiel durch die Sonnenstrahlen, verlieh den Palmblättern ein besonderes Grün. Es war, als würde sein Trommeln die Landschaft zum Leben erwecken; jeder Ast, jedes Blatt, jedes Tröpfchen – alles, was in den Fluss eintauchte, tanzte in seinem Rhythmus. Frische lag in der Luft. Ein Hauch von Moschus. Erde, Holz, feuchtes Laub. Ich war von so vielen uralten Bäumen umgeben, sie gaben mir das Gefühl, im großen Plan der Natur völlig bedeutungslos zu sein. Dennoch, oder gerade deshalb, war der Dschungel von Magie erfüllt. Ich hatte nie einen schöneren Ort gesehen als diesen: den Dschungel von Guyana. Ich wollte mit zwei Freundinnen den Essequibo, den mächtigsten Fluss des Landes, hinunterpaddeln. Von der Quelle bis zur Mündung, 1014 Kilometer durch unberührten Regenwald. Ich glaube, dass wir manchmal vor etwas weg- oder auf etwas zulaufen. Ich laufe, wenn ich ehrlich bin, vor allem vor dem Gefühl weg, dass ich nicht das Beste aus meinem Leben mache; es nicht in vollen Zügen lebe. In unserer hektischen Welt sind wir schnell überfordert. Zumindest geht mir das so. Ich wollte erforschen, was im Leben wirklich zählt.

Eine Welt aus dichtem Grün

Guyana liegt im Norden Südamerikas, ist eines der waldreichsten Länder der Erde. Es gehört zum Ökosystem des Amazonas und entspricht von der Fläche her Großbritannien. Allerdings leben hier nur 800 000 Menschen, die meisten an der Küste, am Atlantik. Die Quelle des Essequibo, wo unsere Kajaktour beginnen sollte, versteckt sich in den Acarai Mountains. Um dorthin zu gelangen, paddelten wir zunächst im Einbaum einen Nebenfluss hinauf: den Sipu River. Er wurde immer schmaler, der Himmel über uns immer dunkelgrüner, je mehr Wasser und Bäume miteinander verschmolzen. Es fühlte sich an, als würden wir in den Regenwald hineingesogen … Hier lebt das indigene Volk der Waiwai – zwei von ihnen begleiteten unsere Expedition. Sie navigierten uns über umgestürzte Baumstämme, kochten „farine“ aus Maniokwurzelmehl, eine Art Couscous. Und zeigten