„Glück bedeutet, das Leben zu lieben“

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INTERVIEW SYLVIA NAUSE-MEIER

SHAOLIN-MEISTER SHI HENG YI

FOTO MARKO PRISKE UND FOTOSCHMIED/WWW.SHAOLINTEMPLE.EU, OTTERBERG

Wovon haben Sie als kleiner Junge geträumt, Shi Heng Yi?

Ich wollte Pilot werden oder Astronaut, wollte abheben. Dem Himmel nah sein. Nachgucken, was da oben so los ist. Dann habe ich Maschinenbau studiert, Kommunikationswissenschaften …

… und sind ein weltweit angesehener Shaolin-Meister geworden.

Ich war vier, als mich mein Vater zum Shaolin-Training anmeldete. Nie hätte ich ihm widersprochen. Meine Eltern kamen in den 80er-Jahren als „Boat People“ aus Vietnam, fanden hier ein Zuhause – und lebten nach ihren kon-fuzianischen Tugenden: Loyalität, Folgsamkeit und Respekt gegenüber den Eltern und Ahnen, Wahrung von Anstand und Sitte. Im Mittelpunkt steht mein eigenes Verhalten. Denn das ent-scheidet über die Balance von allem: Lebe ich diese Tugenden, ist die Familie in Harmonie. Sind die Familien in Harmonie, ist es auch das Dorf. Sind die Dörfer in Harmonie, sind es die Provinzen. Sind die Provinzen in Harmonie, ist es der Staat. Sind die Staaten in Harmonie, ist es der Kosmos.

Und das konnten Sie bereits als Kind verinnerlichen?

Insofern, dass ich mich dem, was ich tat, stets mit Einsatz widmete. Ganz oder gar nicht. Ich wollte meine Eltern stolz machen, spürte jedoch auch schnell, wie viel Spaß mir das Trainieren machte. Ich kannte Filme, wie die „36 Kammern der Shaolin“ in- und auswendig.

Was ist das Besondere an der Lehre des Shaolin?

Ihr Kern ist die Weisheit des Buddhismus: Achtsamkeit zu entwickeln, Klarheit zu erlangen. Bei den Shaolin-Praktiken nutzen wir bewusst unseren Körper als Zugang zu unserem Geist. Wir lernen, auf den Körper zu hören, mehr noch: mit unserem Körper zu hören. Dabei hilft uns Kung-Fu, die jahrhundertealte chinesische Kampfkunst.

Worin liegt der Sinn des Kämpfens?

Die Kampfkunst-Praxis dient mir als Instrument, um mich und mein Leben zu erkennen. Der härteste Kampf ist immer der Kampf mit uns selbst. Dafür trainieren wir, dafür meditieren wir: um diesen Kampf in uns mit uns zu gewinnen – und jenen mit anderen zu vermeiden. Durch das Shaolin Kung-Fu lernst du, ehrlich dir selbst gegenüber zu sein. Indem du deine Stärken und Schwächen auszuloten weißt. Das gibt dir Selbstvertrauen. Du lernst, dich im Jetzt zu bewegen. Denn die Achtsamkeit aus den Trainingseinheiten fließt immer mehr in deinen Alltag. Sie ermöglicht dir, Altes, Eingefahrenes in neuem Licht zu sehen.