Ihr Leben begann in einem kleinen Iglu auf Baffin Island in der kanadischen Arktis. Eine Schule besuchte sie nie. Doch mit ihren mystischen Zeichnungen wurde Kenojuak Ashevak zur größten Inuit-Künstlerin ihrer Zeit
TEXT JUTTA JUNGE FOTO DORSET FINE ARTS/AUS DEM BUCH KENOJUAK ASHEVAK “LIFE AND LEGACY” MARTIN LIPMAN / CANADA COUNCIL FOR THE ARTS NATIONAL FILM BOARD
Wenige Tage vor der Geburt des Kindes bauen die Inuit ein kleines Iglu für die Schwangere. Als Silaqqi merkt, dass es so weit ist, breitet die junge Frau darin warme Felle aus und legt sich nieder. Ihr Mann Usuaqjuk brät für sie auf einem flachen Stein ein Stück Fleisch. Es soll sie stärken, denn die Schwangere wird in den nächsten Stunden all ihre Kraft brauchen. Niemand darf ihr bei der Geburt helfen, sie muss es ganz alleine schaffen. In den frühen Morgenstunden erblickt ihre Tochter das Licht der Welt. Die erschöpfte Mutter ruht sich noch 24 Stunden aus, bevor sie wieder zu ihrem Mann und den zwei älteren Kindern zurückkehrt..
Welchen Namen bekommt das Kind?
So beginnt im Jahr 1927 das Leben von Kenojuak an der Südwestküste von Baffin Island in der kanadischen Arktis. Der genaue Tag der Geburt ist unbekannt, er spielt für die Inuit keine Rolle. Viel wichtiger ist der Name. In der Inuit-Sprache gibt es keine speziellen Jungen- oder Mädchennamen. Das Kind bekommt den Namen eines Verstorbenen, der auf diese Weise geehrt wird. Es heißt, all seine positive Eigenschaften und Seelenkräfte gehen auf das Neugeborene über. Die beiden sind dann spirituell verbunden. Kenojuak trägt den Namen ihres Großvaters mütterlicherseits, eines stolzen und klugen Mannes. Was niemand ahnt: Seine Enkelin wird einmal als die bekannteste Inuit-Künstlerin ihrer Zeit in die Geschichte eingehen.
Baffin Island wird seit Tausenden von Jahren von Inuit bewohnt. Das Klima ist streng, besonders im Winter, wenn Nordostwinde über das Land toben. Fjorde durchziehen die Insel. An den Rändern der Eisschollen tummeln sich Robben und Walrosse, hier leben Narwale und Eisbären. Am Himmel kreisen Adler. Auf Baffin Island verbringt Kenojuak eine unbeschwerte Kindheit und Jugend, geprägt vom Leben in der Natur. Die Insel ist berühmt für ihren Fischreichtum, und Kenojuak wird eine begeisterte Eisfischerin. Eine Schule besucht sie nie. Bis zu ihrem 19. Lebensjahr wohnt sie bei ihrer Großmutter Quitsaq,
