„Wenn du immer nur versuchst, normal zu sein, wirst du nie herausfinden, ob du außergewöhnlich bist“

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„Wenn du immer nur versuchst, normal zu sein, wirst du nie herausfinden, ob du außergewöhnlich bist“

Was genau ist es, was mich ausmacht? Wie finde ich das, was mich erfüllt? Woraus schöpfe ich Kraft? Hier erzählt der Weltstar Ute Lemper (60) exklusiv von der Magie der Musik, über Wege, Umwege und darüber, wie sie ihre Spiritualität entdeckt hat

INTERVIEW SYLVIA NAUSE-MEIER FOTO © UTE LEMPER / DIE ZEITREISENDE, GRÄFE UND UNZER / GUIDO HARARI UND © CHRIS SORENSEN 2016 REDUX/LAIF

UTE LEMPER

Die Zeitreisende“, so heißt Ihr Buch, Frau Lemper, und auch Ihr neues Album. Welche Rolle spielt Zeit für Sie?

Erst in unseren Erinnerungen verwandeln sich Momente in Wunden oder Wunder. Je älter wir werden, umso schneller rollt unser Gehirn Schneebälle von Gegenwarten den Berg hinunter – hinein in die Vergangenheit. Ich habe die 60er-Jahre erlebt, die Enge, die Moralapostel des Nachkriegsdeutschlands, den Aufbruch in den 70ern, West-Berlin mit der Mauer, London, Paris, New York. Stürme, Umbrüche. Abschiede und Neuanfänge – meine Zeitreise. Ich empfinde Melancholie im Angesicht der Vergänglichkeit. Wenn ich jedoch einen Schritt zurücktrete und meine 60 Jahre in den Händen halte, spüre ich Ruhe und etwas Zeitloses. So eine Art Selbstverständnis, das ich in mir trage. Eine Essenz. Meine Essenz.

Wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Ich bin ein romantischer Mensch. Jemand, der gern in einem gemeinsamen Nest lebt, aber auch Alleingängerin ist. In meiner Imagination bin ich grenzenlos. Ich ersticke ungern Emotionen. Mit zu vielen Kompromissen kann ich schlecht umgehen, kann nichts vorlügen, hasse Kitsch. Ich passe in keine Schublade, bin trotzdem bodenständig. Besessenheit ist ein Teil meiner Existenz, eine Flucht vorm langweiligen Bedeutungslosen, die Neugierde auf das Unerforschte. Nur wenn du zu weit gehst, kannst du herausfinden, wie weit du gehen kannst.

Was haben Sie unterwegs gelernt?

Dass mir (m)ein gesunder Trotz Kraft gibt …

…inwiefern?

Die Wurzeln liegen wahrscheinlich in meiner Kindheit: Münster in den 60ern. Ich wuchs behütet auf, die Welt erschien mir rund und perfekt. Ich dachte, ich müsse ebenso fehlerlos in ihr leben. Doch da waren dieser autoritäre Zeitgeist, die Kleidung, Häuser, alles war so gleichförmig. Für mein Temperament schien kein Platz zu sein. Stattdessen war die Frömmigkeit allgegenwärtig. Der Kirchgang schnürte mir den Atem ab. Die Strafbarkeit von Gedanken, Worten und Taten erschien mir unerträglich. Das ewige Geläut der vielen Kirchen nahm