„Das eigene Ich findet man in der Einsamkeit“

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Sie heiratete den Flug-Pionier Charles Lindbergh, einen Helden, erlebte mit ihm umjubelte Höhenflüge, aber auch tiefe Abstürze. Ihre Seelenruhe fand Anne Morrow Lindbergh schließlich in der Einsamkeit von Captiva Island, wo Wasser, Strand und Wind ihr die Dinge des Seins offenbarten

TEXT JUTTA JUNGE FOTO YALE UNIVERSITY ALAMY GETTY IMAGES ILLUSTRATION SHUTTERSTOCK ISTOCK

Anne Morrow Lindbergh

Die Linie des Lebens ist alles andere als gerade. Manchmal ist sie ein breiter Weg, manchmal ein schmaler Pfad. Bisweilen ist sie ein gewundener Fluss, der hinter seinen Biegungen Unerwartetes bereithält. Was aber, wenn unsere Lebenslinie sich als abenteuerlicher Flug herausstellt, der uns in ungeahnte Höhen katapultiert und uns grenzenloses Glück und unstillbaren Schmerz bringt?

Das nachdenklichste Kind

Anne Spencer Morrow wird am 22. Juni 1906 in Englewood, New Jersey, geboren. Der Vater, Dwight Morrow, ist Geschäftsmann, US-Botschafter in Mexiko und Senator von New Jersey. Mutter Elizabeth arbeitet als Lehrerin, schreibt Gedichte und engagiert sich für die Bildung von Frauen. Die Morrows gehören zu den reichsten Familien an der Ostküste, Anne wächst behütet und in großem Wohlstand mit drei Geschwistern heran. Jeden Abend liest Elizabeth Morrow ihren Kindern vor. Die Kleinen lernen auf diese Weise früh lesen und schreiben und beginnen, selbst Gedichte und Tagebücher zu verfassen. Anne ist das stillste und nachdenklichste der Morrow-Kinder, interessiert sich für Kunst und träumt von großen Taten und weiten Reisen. Sie ist noch keine zehn, da sagt sie, sie werde einmal „einen Helden“ heiraten. Sie wird dafür belächelt. Doch genau so wird es kommen.

Antrag im Flugzeug

Anne Morrow lernt den smarten Nationalhelden Charles Lindbergh Ende 1927 kennen, ein halbes Jahr nach seinem triumphalen Alleinflug über den Atlantik. Aus Gewichtsgründen hatte Lindbergh zugunsten maximaler Treibstoffzuladung auf Funkgerät und Sextant verzichtet und musste sich deshalb mit Armbanduhr, Karten und Kompass begnügen – ein mehr als mutiges Unterfangen. Der waghalsige Pilot ist zu dieser Zeit vermutlich der berühmteste Mann der Welt und besucht die illustre Familie Morrow auf Einladung des Vaters in Mexiko-Stadt. Für die schüchterne Anne ist es Liebe auf den ersten Blick, für Charles vielleicht ebenso. Auf jeden Fall teilen sie eine gemeinsame Faszination: das Fliegen. Das erste Rendezvous findet 1928 in einem Flugzeug über Long Island statt. „Plötzlich spürte ich das wahre Gefühl des Aufstiegs – ein großer Auftrieb, wie ein Vogel, wie die Träume e