Mit Glockengeläut und Hunderten Hufen im Herzen

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Sie brauchen keine Landkarte, keine Navigation: Ihr Kompass ist die Liebe. Die Liebe zu ihren Wasserbüffeln. Diese trägt die Van Gujjar s alljährlich mit allem Hab und Gut hinauf in die höchsten Berge der Erde und lässt sie mehr als 3000 Höhenmeter und viel Unvorhersehbares überwinden …

TEXT ZUSAMMENGESTELLT VON BLANCHE NEUWIRTH TEXTQUELLE MICHAEL BENANAV: HIMALAYA BOUND FOTO MICHAEL BENANAV

Rhythmisches Singen mit einem tiefen, hallenden Summen erfüllt die Hütte. Im flackernden Licht eines knisternden Kochfeuers und einer einzelnen Petroleumlampe hebt und senkt sich ein Schatten auf einer mit Lehm verputzten Wand. Es ist zwei Uhr morgens. Während der Vater mit Blick nach Westen Richtung Mekka betet, sitzt die 22-jährige Appa auf dem Boden neben einem irdenen Herd und schaut zu, wie der morgendliche Chai köchelt. Ihre Geschwister bewegen sich noch träge, als seien sie in den Ranken anhaltender Träume gefangen. Erst die Stimme ihrer Mutter wirkt wie ein Stärkungsmittel und reißt sie aus ihrer schläfrigen Trance: Es ist Zeit zu packen. Es ist Zeit, aufzubrechen! Draußen in der Dunkelheit des Dschungels läuten Kuhglocken, Grillen zirpen, und Affen heulen in den Bäumen. Methodisch verstaut Appa die letzten Habseligkeiten der Familie in Satteltaschen aus dick gewebtem Rosshaar; ihre Brüder binden diese auf die Lasttiere – Stiere und Pferde. Inzwischen ist die Stimmung in der Hütte von der gleichen Anspannung und Aufregung erfüllt, wie Familien sie typischerweise kurz vor der Abreise in die Ferien verspüren. Doch diese Familie fährt nicht in den Urlaub. Sie wandert mit ihrer Wasserbüffelherde und allem Hab und Gut in die höchsten Berge der Erde – so wie es schon unzählige Generationen vor ihr getan haben. Etwa 40 Tage werden sie unterwegs sein, mehr als 200 Kilometer zurücklegen und mehr als 3000 Höhenmeter überwinden.

Im Rhythmus der Natur

Appa und ihre Familie gehören dem Stamm der Van Gujjars an und leben noch nach der traditionellen Weise nomadischer Wasserbüffelhirten. Sie verbringen das ganze Jahr über in der Wildnis – in den Dschungeln und Bergen Nordindiens: In der Zeit von Oktober bis April leben sie in den Shivalik Hills – einem niedrigen, aber zerklüfteten Gebirgszug, der sich durch Teile der Bundesstaaten Uttar Pradesh, Uttarakhand und Himachal Pradesh zieht. Inmitten des dichten Waldes lässt sich jede Van Gujjar-Familie in einem Basislager nieder. Jeden Tag streifen ihre Mitglieder von dort aus über die knorrige Sedimenttopografie, durch ein Gewirr von Laubbäumen und Sträuchern und füttern ihre Büffel mit dem üppige