„ Es war einmal ...“

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Wir alle kennen sie, die Zaubermärchen unserer Kindheit. Was wir vielleicht nicht kennen, ist die verborgene Wahrheit, die sie erzählen – eine Wahrheit, in der keine hübschen Prinzen vorkommen, sondern die Erinnerung an die Große Göttin selbst und den Weg der Frauen, die zu den Quellen ihrer Ur-Kraft finden …

TEXT DOROTHEE TEVES FOTO LAUREL LONG ERROL LE CAIN KAY NIELSEN/BRIDGEMAN IMAGES HARPER'S BAZAAR ALAMY SHUTTERSTOCK

Es war einmal eine alte Hexe. Sie wohnte in einem zuckersüßen Lebkuchenhaus und wollte Hänsel fressen; sie verfluchte Dornröschen, vergiftete Schneewittchen und hielt Rapunzel in einem Turm gefangen. In Aberhundert Märchen treibt die böse Frau ihr Unwesen, doch zum Glück kennen wir alle den Ausgang dieser Geschichten. Was wir vielleicht nicht kennen, ist ihr Anfang – ihr wahrer Anfang. Und das, was die Märchen uns in Wirklichkeit erzählen. Denn eines ist gewiss: Es geht darin nicht um Gut oder Böse oder um moralische Werte und schon gar nicht um tapfere Prinzen, deren Kuss alles zu richten vermag. Sondern um etwas sehr viel Machtvolleres: die Erinnerung an die Quelle der weiblichen Ur-Kraft; das Eins-Sein mit allem …

Hexe und Prinzessin stehen auf derselben Seite

Es heißt, Märchen wurden ursprünglich von Frauen für Frauen erzählt – in den Spinnstuben hochgebildeter, adeliger Damen. Dabei handelte es sich weder um oberflächliche Geschichten, noch um überlieferte Volksweisen oder gar um Erzählungen, die eine tiefenpsychologische Deutungsebene besaßen. Vielmehr bedienten sich die Frauen bei Elementen der babylonischen, griechischen und germanischen Mythologie, um eine verschlüsselte Botschaft zu vermitteln – nämlich die Erinnerung an eine Zeit, die geprägt war von dem alten Urglauben an die Kraft von Mutter Erde. Märchen sind demnach „abgesunkene Mythen“, wie die Philosophin und Matriarchatsforscherin Dr. Heide Göttner-Abendroth schreibt – nämlich komplexe Abbilder insbesondere matriarchalischer Gesellschaften. „Sie entstanden, weil es gefährlich war, matriarchale Mythen in patriarchalen Gesellschaften mit ihren dogmatischen Großreligionen namentlich zu erzählen; sie galten als feindlich oder heidnisch und durften sich deshalb Außenstehenden nicht zu erkennen geben“, so Göttner-Abendroth. Tatsächlich wissen wir heute, dass mit der Indoeuropäisierung Alt-Europas ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. auch eine dramatische religiöse Wende in Europa stattfand: Wo hier einst eine Urreligion herrschte, in deren Mittelpunkt die große Dreifaltige Muttergöttin stand, die alle Aspekte des ewigen Kreislaufs von Leben, Tod und Regeneration v