Die Letzten beißen die Orcas

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Nirgendwo auf der Welt gab es so viele Weiße Haie wie vor Südafrika. Auf einmal sind sie verschwunden. Wissenschaftler befürchten weitreichende Folgen für die Meere

König der Ozeane Der bis zu acht Meter lange und bis zu drei Tonnen schwere Weiße Hai stand an der Spitze der Nahrungskette. Sein einziger Feind hat die Jagdpraxis auf ihn nun spezialisiert
Foto: Reinhard Dirscherl/ Lookphotos

Noch im Morgengrauen legt das Team von White Shark Projects ab. Ein böiger Wind pfeift über die See. In endloser Folge rollen meterhohe Wellen unter dem Motorboot hinweg. Die rund 20 Touristen an Bord sind nervös, einige sichtbar seekrank. Gut eine halbe Stunde später wirft Grant Tuckett, der Skipper, den Anker.

Shark Alley – Haifischgasse – heißt das legendäre Gebiet östlich vom Kap der Guten Hoffnung in Südafrika. Der etwa 150 Meter breite Kanal verläuft zwischen Dyer Island und Geyer Rock, zwei kleine Inseln im Atlantik. Sie sind Brutstätte für Tausende Brillenpinguine und Kap-Pelzrobben, ein Schlemmerparadies für den König der Ozeane.

Unternehmen wie White Shark Projects haben sich auf Käfigtauchen spezialisiert. Der kleine Küstenort Gansbaai, Ausgangsort der Abenteuer, gehört zu den weltweit wichtigsten Orten für Hai-beobachtungen. In Spitzenjahren buchten 150 000 Nervenkitzelfans das Nah-Hai-Erlebnis hinter Gittern. Die Industrie betreibt Hotels, Restaurants und Souvenirshops sowie „Ökotourismus“-Akademien, die junge Menschen zu Hai-schützern ausbilden wollen.

Das boomende Geschäft in der „Welthauptstadt der Weißen Haie“ ist Geschichte. Der Spitzenprädator ist abgetaucht. Seit 2017 wurden die Sichtungen von Carcharodon carcharias am gesamten Südzipfel Afrikas, von False Bay bis Mossel Bay, immer seltener. „Es ist verrückt. Vorher wimmelte es hier von Weißen Haien. Und auf einmal waren sie weg“, erklärt Hannah Rudd, Meeresbiologin bei White Shark Projects. „Manchmal sehen wir monatelang keinen Einzigen.“

Wissenschaftler auf der ganzen Welt beobachten die Ereignisse am Kap mit Spannung und Sorge. Welche Rolle spielt die Natur, welche der Mensch? Welche Folgen hat es, wenn der Gigant, der bislang an der Spitze der Nahrungskette stand, dauerhaft fehlt? Ein 14-köpfiges, internationales Forscherteam um die britische Haiforscherin Alison Towner veröffentlichte 2022 erstmals eine Studie über das Verschwinden des Raubfischs in seinem angestammten Revier. Towner hatte in den Jahren zuvor angespülte tote Haie untersucht und festgestellt, dass den oft fast unversehrten Körpern meist nur deren Leber fehlte, selten auch das Herz. Haifischlebern sind groß, sie machen rund ein Drittel der Gesamtmasse eines Tiers aus und sind reich an Fetten und Ölen.

Gefeiert und gefürchtet Beim Käfigtauchen kamen Touristen dem Weißen Hai hautnah (oben). Heute sind solche Begegnungen selten

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