Beim Wort genommen

6 min lesen

DEMOKRATIE

Er brauchte lange, um sich beheimatet zu fühlen: Michel Friedman. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel und dem Erstarken des Antisemitismus hierzulande gerät alles wieder ins Wanken. Über die wachsende Unsicherheit, ein Jude in Deutschland zu sein

FOTO VON JULIA SELLMANN

Ein Donnerstag in Berlin. Im Lichthof des Humboldt Forums zeichnet der Deutschlandfunk eine Sendung auf. Jeder darf kommen, zuhören und anschließend, wenn die Liveübertragung vorbei ist, dem Gast seine Fragen stellen. Heute heißt der Gast Michel Friedman. Und die Frage an ihn, die der Moderator von einem Zettel abliest, lautet: Welchen Stellenwert hat Spiritualität in Ihrem Leben?

Friedman – schwarzer Anzug, bordeauxrote Krawatte, weißes Einsteckzug – schaut irritiert. Er dreht sich zum Publikum herum, das im Halbrund hinter ihm sitzt. „Wer war’s?“ Tuscheln. Eine Frau um die Sechzig hebt die Hand. Michel Friedman wendet sich ihr nun voll zu. „Was ist für Sie Spiritualität?“, fragt er zurück. „Religion? Aberglaube? Globuli?“ Lachen. Die Frau schüttelt den Kopf. Friedman lässt nicht locker. „Hohes Wesen, aber kein Gott? Schicksal? Eine höhere Macht, die mich bestimmt? Auch nicht?“

Ein Mitarbeiter drückt der Frau ein Mikrofon in die Hand. Sie sagt nun für alle rund 200 Gäste hörbar, sie sei überzeugt von einer helfenden Verbindung zwischen den Menschen. „Wenn es das für Sie gibt – hilft es Ihnen?“ Die Frage ist erkennbar empathisch gemeint. Michel Friedman antwortet auf Friedman-Art: raumgreifend, elaboriert, mokant. Er habe, sagt er, „das Universum noch nie touristisch kennengelernt“. Erneut Gelächter. Aber im Ernst: „Mein Blick in die Welt ist, dass wir das, was wir da oben suchen, eigentlich hier haben. Meine Spiritualität heißt Respekt.“ Applaus. Als die nächste Frage vorgelesen wird, verlässt die Frau die Veranstaltung.

Die Szene zeigt recht gut, was den öffentlichen Michel Friedman ausmacht: stark auftreten und stets die Kontrolle behalten. Fragen eher parieren als beantworten. Rhetorisch weit oberhalb der Norm. Das ist zumindest der erste Eindruck, wenn man Michel Friedman dieser Tage folgt, ihm zuhört und zusieht. Bei öffentlichen Terminen wie hier in Berlin, in Radio- und Fernsehinterviews, als Podcast-Gast oder Leitartikler, der sich in der „Süddeutschen Zeitung“ über das Versagen des deutschen Kulturbetriebs bei der Berlinale-Gala erbost. „Danke für nichts“, lautet die Überschrift. Dass dieser stets bei hoher Betriebstemperatur agierende Mann noch eine weitere, ganz weiche, nahbare Seite hat, wird sich erst später, bei anderer Gelegenheit zeigen.

Gesicht zeigen Michel Friedman (M.) bei der Solidaritätskundgebung „Nie wieder ist jetzt“, Mitte Dezember 2023 in Berlin. Nur wenige Tausend Menschen kamen, weit weniger als erwartet
Foto: action press

Dieser Artikel ist erschienen in...