Von der Macht der Moral

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Der Krach um die Wirtschaftssachverständige Veronika Grimm zeigt auch, wie dominant inzwischen Gefühlsfragen in vielen deutschen Debatten geworden sind

Veronika Grimm ist eine Frau der Wissenschaft. Zahlen, Modelle und Prognosen sind die tägliche Arbeit der Ökonomin. Insofern wusste die 52-Jährige sicher, was sie tat, als sie den größten Krach anzettelte, den ihre an Krächen nicht arme deutsche Zunft seit Langem erlebt hat. Und selbst ihre Gegner bescheinigen Grimm, dabei nach Recht und Gesetz gehandelt zu haben. Aber das reicht heute nicht mehr, was sie dann doch unterschätzt hat.

Grimm ist Professorin in Nürnberg und zudem Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Schon der Titel ist so sperrig, dass man die fünf Mitglieder nur „Wirtschaftsweise“ nennt. Sie werden von der Regierung erkoren, vom Bundespräsidenten ernannt und sind dann – einmal im Amt – völlig unabhängig. Jedes Jahr übergeben sie der Regierung ein dickes „Jahresgutachten“. Es gibt ein Foto mit dem Kanzler, der jede Kritik an seinem Kurs weglächeln kann. Auch die von Grimm, die recht gern kritisiert.

Im November wurde sie dann von Joe Kaeser, Aufsichtsratschef von Siemens Energy, gefragt, ob sie nicht nebenbei noch Mitglied in seinem Kontrollgremium werden wolle. Sie wollte. Mache doch Sinn, wenn Theoretikerinnen wie sie Einblicke in die Praxis hätten. Auch früher gab es solche Nebenjobber unter den Wirtschaftsweisen. Ein paar Anrufe in den zuständigen Ministerien später wusste Grimm, dass keine rechtlichen Bedenken existierten. Die Compliance des Konzerns war ebenfalls einverstanden.

Als Siemens Energy den Plan im Dezember veröffentlicht, sind die anderen vier „Wirtschaftsweisen“ empört und fürchten Interessenkollisionen. Eine Energieexpertin bei einem Energiekonzern? Eine „Wirtschaftsweise“ gar im Umfeld jenes Unternehmens, das zuletzt durch eine staatliche Bürgschaft gestützt werden musste? Grimm hält dagegen. Das sei ein Kontrolljob, nichts Operatives. Die vier Grimm-Gegner alarmieren trotzdem Wirtschafts- und Kanzleramtsminister, was erst recht ein Affront ist gegenüber der Kollegin, die sie vor die Wahl stellen: entweder Unternehmen oder Rat.

Ein Fehler, merkt das Quartett selbst schnell. Denn wie unabhängig ist ein Gremium von einer Regierung, die ihm gegen eine nervige Kollegin helfen soll? Aber seither läuft die Empörungsspirale lehrbuchartig heiß. Alles ist inzwischen symbolpolitisch aufgeladen. Wie so oft im Land geht es nun um „Deutungshoheit“ und „Narrative“. Die einen mutmaßen, Grimm solle erledigt werden als Regierungskritikerin in dem Gremium, das zuletzt tatsächlich viel Verständnis für die Ampel zeigte. Verteidiger und Ankläger haben sich in Stellung gebracht. „Bild“ schlägt „Mobbing-Alarm“. Die „Expertin beschädigt sich

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