Die Politische Meinung
6 April 2023

Dass die Begriffe „Sicht“ und „Einsicht“ unterschiedliche Verwandte sein können, ist eine philosophische Urerkenntnis. Neuere Wahrnehmungsdefizite lassen es geraten erscheinen, dem für offensichtlich Gehaltenen wieder verstärkt zu misstrauen. Der für die meisten zuvor unvorstellbare Brexit, der ausgeschlossen geglaubte Wahlsieg Trumps und vor allem die bis zuletzt verdrängte Möglichkeit eines russischen Überfalls auf die Ukraine haben vermeintlich unerschütterliche Weltsichten ins Wanken gebracht. Längst beeinflussen neue Denkansätze wie die Identitätspolitik die gesellschaftliche Realität. Heute zeigt sich, dass die Relevanz dieser forcierten Fortschrittsmodelle teils unterschätzt worden ist. Ihre Anhängerschaft ist inzwischen oftmals derartig mobilisiert, dass die Kritik meist entweder ähnlich erregt oder eingeschüchtert reagiert. Noch traut sich beispielsweise nur ein ziemlich einsamer Rufer – und das ausgerechnet im Spiegel –, den Anspruch einer „feministischen Außenpolitik“ als eine „Art Staatsdoktrin“ argumentativ infrage zu stellen. Wer mag dem eigentlich Guten wie Frauenrechten schon widersprechen? Das Neue, geistesgeschichtlich vermutlich eine alttestamentarische Erfindung, ist im christlich inspirierten Denken ambivalent und bewegt sich zwischen Hoffnung und Skepsis. Die Aufgabe besteht darin, dem Neuen offen zu begegnen, möglichst integrative, aber zugleich selbstbewusste Antworten auf andere Denkansätze zu erarbeiten und – wenn es gut geht – wachen Auges selbst neu zu denken.

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