Die Politische Meinung
10 June 2022

„Dank der mutigen Ukrainer“ verflüchtige sich der „Blues vom Niedergang der globalen Demokratie“, so der notorisch zukunftsfreudige Francis Fukuyama. Doch verfrüht ist der Jubel über die neu gefundene Einigkeit in und unter den westlichen Demokratien. Der Preis der Kriegsfolgen und Sanktionen bietet brisantes Potenzial für Konflikte und Spaltung. Schon jetzt ließen sich die Franzosen nicht davon abhalten, in großer Zahl Populisten zu wählen. Olaf Scholz sowie die sozialistischen Ministerpräsidenten von Spanien und Portugal riefen in Le Monde zur Wahl des Amtsinhabers auf und die Franzosen ermunterten, ein Frankreich zu wählen, „das unsere gemeinsamen Werte verteidigt“. Gestützt auf ihre überlegene Autorität, wirken auswärtigen Regierungschefs auf das Wahlverhalten europäischer Nachbarn ein und setzten sich dem altbekannten Vorwurf aus, dass die politische Mitte nur mit Moralisierung auf den Populismus reagieren kann. Dies verdeutlicht, wie problematisch es ist, etwas Allgemeines wie „unsere gemeinsamen Werte“ für sich in Anspruch zu nehmen. Vermittelt das doch den Anschein, dass die Angesprochenen vernünftigerweise gar nicht anderer Ansicht sein könnten. In dieser Herangehensweise liegt ein entpolitisierendes Moment, auf Dauer sogar eine antipluralistische Gefährdung. Wer das Politische zurückdrängt, sollte sich über Distanz- und Frustrationsmehrheiten, die vorerst nur den Wahlen fernbleiben, nicht wundern. Der Verweis auf das Allgemeine vermag ein profiliertes politisches Programm nicht zu ersetzen. Die gerade für Volksparteien so wichtige Bündelung von Interessen geschieht nicht bloß durch Konsens- und Dialogorientierung. Mehr Gemeinsamkeit entsteht – so paradox es erscheint – auch im Streit und Widerstreit.

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