Mehr als Bikinimedizin

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Die geschlechtsspezifische Medizin erforscht den Einfluss von Hormonen und Geschlechtschromosomen, aber auch von Geschlechterrollen und Stereotypen auf Gesundheit und Krankheit.

von RUTH EISENREICH (Text) und RICARDO RIO RIBEIRO MARTINS (Illustrationen)

bdw-Illustration/Ricardo Martins; glozilla, asier/stock.adobe.com

Einen Herzinfarkt erkennt man an Schmerzen in der Brust, die in den rechten Arm ausstrahlen? Stimmt – aber nicht ganz. Nur knapp zwei Drittel aller Menschen, die einen Herzinfarkt erleiden, spüren Schmerzen in der Brust. Das hat eine Analyse von 1,1 Millionen Fällen in den USA aus den Jahren 1994 bis 2006 gezeigt. Unter den männlichen Patienten klagten 69 Prozent über Schmerzen in der Brust, unter den Frauen nur 58 Prozent. Insbesondere bei Frauen machen sich Herzinfarkte häufig vor allem durch Rückenschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen bemerkbar.

Dass es solche Erkenntnisse heute gibt, ist einem medizinischen Fachgebiet zu verdanken, das erst rund 30 Jahre alt ist und lange belächelt wurde: der geschlechtsspezifischen Medizin, auch geschlechtersensible Medizin oder Gendermedizin genannt. Wobei der Begriff „Gendermedizin“ irreführend ist – denn das Fachgebiet beschäftigt sich nicht nur mit dem sozialen Geschlecht (engl. gender), also etwa mit Geschlechterrollen,
-identitäten und -stereotypen, sondern auch mit dem biologischen Geschlecht (engl. sex), also zum Beispiel dem Einfluss der Geschlechtshormone und
-chromosomen.

Der Mann ist der Standardmensch, die Frau eine kleinere Version davon mit anderen Fortpflanzungsorganen: So ungefähr blickte die Medizin lange Zeit auf den menschlichen Körper. Anfang der 1990er-Jahre begannen US-amerikanische Kardiologinnen, genauer hinzusehen. Sie stellten fest, dass Frauen viel häufiger Herzinfarkte erlitten, als man bis dahin gedacht hatte – und dass sie, wenn sie einen Herzinfarkt hatten, wesentlich häufiger daran starben als gleichaltrige Männer. Offenbar vor allem deshalb, weil ihre Infarkte sich oft durch andere als die „klassischen“ Symptome äußerten und deshalb nicht rechtzeitig erkannt wurden. Noch heute sterben in Deutschland 32 Prozent der Männer, aber 38 Prozent der Frauen an einem Herzinfarkt, ohne es überhaupt ins Krankenhaus geschafft zu haben.

Mittlerweile weiß man, dass sich die Geschlechter auch an vielen anderen Körperstellen unterscheiden, die relevant für die Vorbeugung, Diagnose und Behandlung verschiedenster Erkrankungen sind. Zum Beispiel erkranken mehr Männer als Frauen an fast allen Krebsarten, die nicht das Fortpflanzung

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