Sympathie für den Teufel

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Eine spektakuläre Geiselnahme gab dem Stockholm-Syndrom seinen Namen. Der Fall zeigt: Einigkeit mit dem Entführer muss nicht irrational sein – und Gut und Böse nicht immer klar verteilt.

Es ist ein warmer Sommermorgen im Zentrum von Stockholm. Kurz vor 10 Uhr geht ein junger Mann auf die Filiale der Sveriges Kreditbank am Norrmalmstorg-Platz zu. Er trägt Sonnenbrille, eine dunkle Perücke, am Kragen seiner Jacke blitzt ein Stück Metall hervor. Als er die Bank betritt, öffnet er den Reißverschluss, zückt ein Maschinengewehr, feuert eine Salve in die Decke und brüllt: »Die Party hat begonnen. Runter auf den Boden!« Der Mann ist Jan-Erik »Janne« Olsson, Häftling auf Freigang. Er will drei Dinge: drei Millionen Kronen, einen Fluchtwagen und die Freilassung des berüchtigtsten Kriminellen Schwedens.

In der Lobby mit den Marmorsäulen und der Mahagonitreppe befinden sich etwa 30 Menschen. Wer nah genug am Ausgang steht, flieht. Alle anderen befolgen Olssons Befehle, der droht, jeden zu erschießen, der sich ihm nicht fügt. Einen Mitarbeiter der Bank weist er an, drei Frauen an Händen und Füßen zu fesseln. Einer der ersten Polizisten vor Ort beobachtet das Chaos durch die Fensterscheibe und beschließt, einzugreifen. Olsson schießt, doch der Schuss geht daneben. Glas zerbricht. Ein zweiter Polizist betritt die Lobby über einen benachbarten Eingang. Eine Kugel trifft ihn in die rechte Hand – Rückzug.

Verstärkung rast mit Blaulicht und Sirenen heran. Scharfschützen positionieren sich auf dem gegenüberliegenden Dach, den Lauf der Gewehre auf das Bankgebäude gerichtet. Fast zeitgleich mit der Polizei strömen Schaulustige, Fotografen und Reporter auf den Norrmalmstorg. Zum ersten Mal in der schwedischen Geschichte kann man ein Verbrechen von zu Hause live mitverfolgen. Olsson, verschwitzt und sichtlich aufgekratzt, stellt seine Forderungen. Sein Druckmittel: drei Geiseln.

Eine der gefesselten Frauen ist Kristin Enmark, 23 Jahre alt, kurzes schwarzes Haar. Sie arbeitet in der Kreditabteilung und hat die Lobby gerade erst betreten, als der Mann zu schießen beginnt. Sie wirft sich zu Boden und glaubt noch an einen einfachen Bankraub, der in ein paar Minuten vorbei sein wird. Sie ahnt nicht, dass sie die nächsten 131 Stunden in der Gewalt zweier Schwerverbrecher verbringen wird.

Janne Olssons ehemaliger Zellennachbar Clark Olofsson, verurteilt wegen Raubes, Drogendelikten und versuchten Mordes, ist zu diesem Zeitpunkt schon landesweit bekannt. Er ist ein charismatischer Antiheld, gut aussehend und gefährlich. Zur allgemeinen Verwunderung wird er tatsächlich wie von Olsson verlangt aus dem Gefängnis zur Kreditbank gebracht und sei- nem Kompagnon übergeben – die erste einer Reihe fragwürdiger Entscheidungen der Stockholmer Polizei.

UNSERE AUTORIN Corinna Hartmann ist Psychologin und arbeitet als Wissensc

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