Unsere supernormale Welt

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Ein künstlicher Reiz löst mitunter eine viel stärkere Reaktion aus als sein natürliches Vorbild. Womöglich deshalb hat sich der Mensch eine Welt voller artifizieller Verlockungen erschaffen, die einige Probleme mit sich bringen.

VON MERLIN WASSERMANN

»GONYSFLECK« | Hungrige Möwenküken picken reflexartig auf den roten Punkt am Schnabel des Elterntiers ein.
MAURIBO / GETTY IMAGES / ISTOCK

Den Schnabel der Silbermöwe ziert ein leuchtend roter Punkt. Gerät dieser ins Blickfeld eines Kükens, fängt es instinktiv an, danach zu picken. Es sagt damit: »Hunger!« und hofft darauf, dass das Elterntier großzügig sein Frühstück hochwürgt. Viel energischer picken die Nestlinge jedoch, wenn man ihnen statt Mamas oder Papas Schnabel eine künstliche Attrappe hinhält. Wozu führt man Möwenbabys derart in die Irre?

Es handelt sich um einen in den 1940er Jahren durchgeführten Versuch des Niederländers Nikolaas Tinbergen, eines Pioniers der Ethologie – der vergleichenden Verhaltenswissenschaft. Tinbergen, der für seine Forschung 1973 den Nobelpreis erhielt, war davon überzeugt, dass angeborene Instinkte bei der Art und Weise, wie Tiere sich verhalten, eine wesentliche Rolle spielen (siehe »Genetisch programmiert?«). Mitte des 20. Jahrhunderts gingen viele Fachleute davon aus, Verhalten sei vor allem erlernt. Tinbergen hingegen glaubte, dass spezielle Schlüsselreize – etwa der Anblick des elterlichen Schnabels – ein evolutionär altes Programm anstoßen und damit Handlungen auslösen, die dem Überleben oder der Fortpflanzung dienen.

Gemeinsam mit einigen Kollegen baute er auf der Arbeit deutscher Biologen auf, die beobachtet hatten, wie stark sich manche Tiere von menschengemachten Objekten angezogen fühlen. Tinbergen und sein Team begannen mit solchen künstlichen Reizen zu experimentieren. Dabei sahen sie Schmetterlinge, die Papierausschnitte anbalzten und dafür Artgenossen ignorierten, und Austernfischer, die krampfhaft versuchten, überdimensionierte Eier auszubrüten. Für die Fake-Eier, auf denen sie ungeschickt herumrutschten, weil diese viel zu groß waren, um richtig auf ihnen Platz zu nehmen, ließen die Vögel ihr echtes Gelege links liegen.

Besondere Beachtung schenkte Tinbergen jedoch der eingangs erwähnten Silbermöwe. Er präsentierte Hunderten von Küken der Küstenvögel in tausenden Versuchsreihen verschiedene Schnabelnachbauten. Damit wollte er herausfinden, welche Charakteristiken des Schnabels genau das Pick-Verhalten auslösen. Der Verhaltensforscher variierte d

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